Die Rosen von Montevideo
gefällt worden waren und in Sümpfen verrotteten, sprossen rosafarbene Trompetenblumen und bunte, aber übelriechende Orchideen mit tellergroßen Blütenblättern.
Fremd wie der Anblick der Pflanzen waren die Geräusche – ob das Gequake von Baumfröschen oder der ferne Ruf von Kiebitzen und Truthahngeiern.
Der Dschungel faszinierte Valeria und jagte ihr zugleich Ängste ein, wie sie sie bisher nicht gekannt hatte. Immer wieder passierten sie kleine Seen und Lagunen voller Krokodile, Zitteraale und Piranhas. Nicht immer führte der Weg daran vorbei. Mehrmals mussten sie das Wasser überqueren, indem sie Brücken aus Buschwerk herstellten. Diese waren schmal und selten stabil, und bei jedem Schritt zitterte sie vor Furcht, das Gleichgewicht zu verlieren, ins Wasser zu fallen und einen grässlichen Tod zu sterben.
Valentín war immer zur Stelle, wenn sie ihn brauchte, reichte ihr die Hand oder hob sie über Hindernisse, verhielt sich ansonsten aber distanziert und wortkarg. Manchmal dachte sie, dass sie ihn nur im Traum geküsst hatte – warum sonst tat er so, als wären sie sich nie auch nur annähernd so nahegekommen? Manchmal vermeinte sie, noch die Berührung seiner Lippen zu spüren, und labte sich daran. Und manchmal wiederum war ihr, als läge der Kuss Jahre zurück – desgleichen ihr Leben in Montevideo. Ja, in jenem verwunschenen Reich schienen die Gesetze der Zeit nicht zu gelten. Wenn sie es je wieder lebend verlassen würde, war sie womöglich zur Greisin gealtert, voller Runzeln, den Rücken zum Buckel geneigt und mit schlohweißem Haar. Allerdings fühlte sie sich zugleich stark wie nie, ausdauernd und widerstandsfähig, wie es nur jungen Menschen zu eigen ist. Abends war sie zwar immer erschöpft und schlief tief wie nie, doch am nächsten Morgen harrte sie ungeduldig, dass ihr Abenteuer seinen Fortgang nahm.
Zwei Seelen wohnten in ihrer Brust. Sie hasste den Dschungel – und fand den Marsch durchs Dickicht dennoch spannend und erregend. Sie verging vor Heimweh – und war dennoch froh, der Langeweile und Eintönigkeit, die ihr Leben bislang geprägt hatten, zu entkommen. Sie fühlte sich einsam wie nie – und dachte zugleich, dass sie keinem Menschen je so nahegekommen war wie Valentín. Stundenlang grübelte sie, ob er es auch so empfand und ob er sich nur so abweisend gab, weil er den anderen Männern etwas beweisen wollte, oder ob er tatsächlich so gleichgültig war.
Sie schämte sich der vielen Gedanken, die sie an ihn verschwendete, und sagte sich immer wieder, dass er ihr Feind war, ihr Entführer, den ihre Familie zu Recht am liebsten tot oder streng bestraft gesehen hätte. Doch zugleich sah sie in ihm den Mann mit den traurigen Augen und der melodischen Stimme, den Mann, dessen Ernsthaftigkeit mit einer tief sitzenden Sehnsucht gepaart war, der zupackte, gar roh wirken konnte, und der doch die Gewalt scheute und sich insgeheim nichts mehr wünschte, als in der Hängematte zu liegen und Harfe zu spielen. Was immer er durchgemacht hatte – die Gewalt, der er ausgesetzt war, hatte seine Seele nicht zerstört wie die seines Bruders, und an seiner Seite entdeckte sie auch in sich etwas, was sich als widerstandsfähig, zäh und stolz erwies. Das Mädchen, das sie vor der Entführung gewesen war, war ihr plötzlich fremd – sein Blick auf die Welt so oberflächlich, sein Trachten, seinen Platz im Leben zu finden, so ziellos. Gefunden hatte sie diesen Platz zwar auch jetzt nicht – im Gegenteil: Sie schien weiter entfernt davon als zuvor, wusste sie doch nicht, wer sie war, und noch weniger, wer sie sein wollte. Aber an Valentíns Seite war sie sich plötzlich sicher, dass sie es herausfinden und zu einer starken Frau reifen könnte.
Sie war enttäuscht, wenn er sie ignorierte – und umso glücklicher, wenn er sich um sie kümmerte, sie mit seinem Poncho zudeckte, ihr Matetee reichte oder etwas zu essen gab: Nicht länger mussten sie sich mit getrocknetem Fleisch begnügen, sondern sie genossen Gebratenes von den Schnepfen, Wildenten und Rebhühnern, die die Männer in den Sümpfen erjagten und deren Fleisch unerwartet saftig und wohlschmeckend war.
Im Gegensatz zu den ersten Tagen aß Valeria inzwischen mit gutem Appetit, doch etwas anderes wurde zur steten Qual – die vielen Mücken, Moskitos und Vinchucas nämlich, beißende und stechende Ungeziefer, die sich auch vom Zigarettenrauch nicht vertreiben ließen. Bald war sie am ganzen Körper von roten Quaddeln übersät.
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