Die Rosen von Montevideo
dann ging ihr auf, dass sie sich selbst damit am meisten bestraft hätte. Die Sehnsucht, sich endlich wieder frei bewegen zu können, war größer als der Schmerz – die Sehnsucht auch, Hand in Hand mit Luis spazieren zu gehen. Also biss sie die Zähne zusammen, machte einen weiteren Schritt – und schrie diesmal nicht mehr ganz so laut auf. Und als Luis ängstlich fragte: »Geht es?«, nickte sie entschlossen.
Am ersten Tag schaffte sie an seiner Seite gerade mal ein Dutzend Schritte, am zweiten umrundete sie einmal die Poststation, am dritten waren die Schmerzen erträglich genug, um so weit zu gehen, bis sie weder die Poststation noch den Fluss sahen. Sie erfreute sich an den vielen Farbtupfern inmitten von hohem Gras, wildwachsenden Blumen und Sträuchern, die Blüten trieben. Mancherorts schlossen mächtige Agaven- und Kaktushecken die Felder und Wege ein, und Claire musterte interessiert den Blütenstand der Agave mit ihrer armleuchterartigen Verzweigung an der Spitze. Die Kakteen wiederum glichen mächtigen Säulen und trieben große Blüten hervor: außen weiß und innen fleischrot. Zum ersten Mal fühlte sich Claire stark genug, Luis’ stützende Hand loszulassen, auf einen zuzulaufen und mehrere Blüten zu pflücken. Leider verwelkten sie rasch wieder.
»Wie schade!«, bedauerte sie. »Ich hätte sie mir gerne ins Haar gesteckt.«
»Du brauchst doch keine Blume im Haar«, sagte Luis schnell. »Du bist auch so wunderschön.«
Noch nie hatte er ihr ein derart offenes Kompliment gemacht, und prompt errötete sie. Doch leider wurde sein Gesicht schon im nächsten Augenblick wieder ernst. Ach, es war so schwer, ihn zum Lächeln zu bringen oder ihn dazu zu bewegen, länger ihre Hand zu halten, als es unbedingt nötig war! Er stützte sie während der Spaziergänge, aber wenn sie zurückkamen und sie sich wieder setzte, wahrte er strikt Distanz.
Nach einigen Tagen, als sie beim Gehen kaum mehr Schmerzen fühlte, stand die nächste Herausforderung an: Um nach Montevideo zurückzukehren, würde sie demnächst entweder eine schrecklich rumpelnde Kutsche oder ein Pferd besteigen müssen. Letzteres schien ihr das geringere Übel, wenngleich sie nach ihrem Sturz schreckliche Angst davor hatte. Luis hatte das Pferd, das sie abgeworfen hatte, wieder eingefangen und behauptete, es wäre ein gutmütiges Tier, das nur wegen des Schusswechsels so panisch reagiert hätte. Claire blieb zunächst misstrauisch, doch als er sie an der Taille umfasste, war diese Berührung zu köstlich, um sich zu widersetzen. Und als sie erst einmal ritt und ihr der Wind ins Gesicht blies, genoss sie die Freiheit. Wie die Spaziergänge wurden auch die Ausritte mit jedem Mal länger.
»Wohin reiten wir?«, fragte sie eines Tages, als Luis so gar nicht ans Umkehren dachte.
»Lass dich überraschen.«
Sie kamen durch dichte Wälder, überwanden einen Höhenzug und ritten schließlich an den sumpfigen Ufern des Río Negro entlang, dessen klares Wasser, wie Luis erklärte, dafür bekannt war, hilfreich gegen syphilitische Leiden und Rheumatismus zu sein. Offenbar kam die heilende Wirkung von der Wurzel der Sarsaparille, die überreich am Ufer wuchs.
Fast überall trafen sie Trinkende und Badende an, die sich Linderung ihrer Krankheiten oder zumindest an heißen Tagen eine Erfrischung erhofften.
»Willst du auch im Fluss schwimmen?«, fragte Luis. »Das würde deinem Bein vielleicht guttun.«
Die Vorstellung, sich in die glitzernden Fluten zu stürzen, war verheißungsvoll, und überdies musste sie an den Tag denken, als sie sich kennengelernt hatten, aber plötzlich packte Claire ein schlechtes Gewissen.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie, »in den letzten Tagen war ich so mit meiner Genesung beschäftigt, dass ich kaum mehr an Valeria dachte. Aber nun … Es ziemt sich doch nicht, dass ich mich vergnüge, während sie … während sie …«
Sie brach ab.
»Valeria ist nicht geholfen, wenn du an Schmerzen im Bein leidest oder auf eine Abkühlung verzichtest.«
»Gewiss, aber …«
Still fügte sie hinzu: Solange ich noch an Schmerzen leide – sind sie auch längst erträglich –, kann ich in dieser Art Niemandsland verharren, muss nicht nach Montevideo zurückkehren, meinem Vater alles erzählen … Ich kann die Zukunft warten lassen, düstere Gedanken verdrängen, die schönen Seiten des Lebens genießen.
Luis betrachtete sie nachdenklich und schien zu erraten, was in ihrem Kopf vorging. »Ich verstehe dich durchaus. Ich
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