Die Rosen von Montevideo
erschienen, frei von der Strenge und dem Pflichtbewusstsein, die seinen Charakter ausmachten. Damals hatte sie zum ersten Mal geahnt, dass sie ihn liebte – und heute? Heute liebte sie ihn mehr als zuvor – und hinterging ihn dennoch.
Warum tust du mir das an, Valeria?, klagte sie im Stillen. Warum zerstörst du mein Glück?
Als sie allerdings Valentín betrachtete, wie er gegen die Ohnmacht kämpfte, konnte sie in ihm nicht den Feind sehen – nur den Mann, den Valeria liebte, dem sie allein zur Freiheit verhelfen konnte und den sie unbedingt zu ihr bringen musste. Es fühlte sich so richtig an, was sie tat, und so entsetzlich falsch. Etwas in ihr zerriss in jenen Augenblicken und würde niemals wieder heil werden, und zugleich legte sie eine Entschlossenheit an den Tag, die sie endgültig erwachsen werden ließ.
Valentín war etwas kleiner als Luis. Die Hosen schliffen über den Boden, die Jacke schlackerte am ausgehungerten Leib, aber die Stiefel saßen wie angegossen. Claire half ihm, die Haare im Nacken zusammenzubinden, zog die Kappe, die sie Luis abgenommen hatte, tief in sein Gesicht und stellte den Kragen auf, damit man seinen langen, ungepflegten Bart nicht sehen konnte.
Als er einige Schritte machte, wankte er wieder.
»Wird es gehen?«, fragte sie bang.
»Es muss …«, erwiderte er heiser.
Sie stützte ihn und musste sich derart anstrengen, dass sie sich kein einziges Mal nach Luis umdrehen konnte, der schlafend auf dem Boden lag.
Das Schwerste stand noch bevor – Valentín an den anderen vorbei durch den Hof zu lotsen. Unwillkürlich verkrampfte sie sich, als das Sonnenlicht sie traf, aber zu ihrem Erstaunen hatte sie keine Angst vor dem Kommenden, sondern spürte nur noch mehr Entschlossenheit. Nichts konnte schlimmer sein, als Luis zu verraten.
Gleich, dachte sie, gleich gehe ich zu ihm zurück. Wenn Valentín erst einmal in Sicherheit ist, werde ich ihm seine Uniform zurückbringen und ihm alles erklären …
Diese Gedanken begleiteten sie, als sie den Hof überquerte. Sie brauchte weiterhin alle Kraft, um Valentín zu stützen, so dass sie kaum bemerkte, die Hälfte schon geschafft zu haben. Dort traf sie jedoch plötzlich eine Stimme. »He, Luis! Was ist denn mit dir los!«
Claire zuckte zusammen, fing sich aber rasch wieder. Ohne Valentín loszulassen, drehte sie sich um und grinste kokett in Richtung der Männer. »Er hat zu viel getrunken. Und ihr kennt ihn doch. Einer wie er verträgt nicht so viel wie ihr.«
Die Männer blieben träge beim Feuer lungern und lachten spöttisch. »Das tut unserem Luis ganz gut, endlich in die Freuden des Lebens eingeführt zu werden.« Eine obszöne Geste folgte – ganz offensichtlich meinten sie nicht nur die Freuden des Trinkens.
Claire war zu angespannt, um verlegen zu sein. Wie von fremder Macht gesteuert, brachte sie die nächsten Schritte hinter sich und erreichte mit Valentín den Ausgang. Auch dort hockten uniformierte Männer, doch die waren gerade beschäftigt, das gebratene Fleisch aufzuteilen, und achteten nicht darauf, dass einer der ihren das Gefängnis verließ. Und dann standen sie zu Claires Erleichterung schon auf der Straße und wurden vom allgemeinen Gedränge mitgerissen.
Hastig leitete sie Valentín in eine Seitengasse. Es wurde zunehmend schwerer, ihn zu stützen, da er nur schlurfend vorankam.
»Bitte, Valentín! Sie müssen all Ihre Kräfte zusammennehmen. Es ist nicht so weit. Und sobald wir bei Valeria sind, müssen Sie sofort die Uniform ablegen, damit ich sie Luis zurückbringen kann. Kommen Sie, es geht in diese Richtung und …«
Während sie sprach, hatte sie sich von ihm losgemacht, weil sie sein Gewicht nicht länger halten konnte. Sie deutete gen Norden, als sie ein Rumpeln vernahm. Entsetzt fuhr sie herum. Valentín hatte alle seine Kräfte verbraucht und war neben ihr auf den Boden gefallen.
»Valentín!«
Claire hoffte, dass er sich aus eigener Kraft wieder aufrichten konnte, und blieb mit einigem Abstand von ihm entfernt stehen, doch als er sich nicht rührte, konnte sie gar nicht anders, als sich zu ihm zu beugen und ihn leicht zu schütteln. Immer noch keine Reaktion. Er atmete, aber nur flach. Claire scheute sich, ihn anzufassen. Bei Luis war es ganz selbstverständlich, ihn zu berühren, ihn zu küssen, aber Luis hatte auch nicht so roh gewirkt, so verwahrlost, so dreckig. Nun, für Letzteres konnte Valentín nichts, mahnte sie sich zur Vernunft. Vorsichtig tastete sie über sein
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