Die Rosen von Montevideo
stumpfsinnig vor sich hin zu starren, als könnte jede schnelle Regung den Traum zerplatzen lassen, dass ihr Mann endlich zurückkehren würde und sie sich seiner Liebe vergewissern könnte.
Fabien Ledoux jedoch hatte den Duft der großen, weiten Welt geschnuppert und wohl für sich beschlossen, dass es erstrebenswerter war, einer feinen Dame Klavierunterricht zu geben, als bei der schwermütigen Béatrice und seinem verrotzten Kind zu hocken. Seit Laurent denken konnte, war er immer krank gewesen, und manchmal fragte er sich, ob seine Mutter ihn absichtlich der Zugluft ausgesetzt hatte, um ihn stellvertretend für seinen Vater zu strafen, oder weil sie insgeheim hoffte, jenes plärrende Kind loszuwerden, das sie dabei störte, Trübsal zu blasen.
Er atmete tief aus; eine graue Wolke stieg vor seinem Gesicht hoch. Die Kälte bekam ihm gut. Nicht zuletzt wegen seines winterlichen Kleides hatte er den Taunus schätzen gelernt. Die Gedanken an die Vergangenheit erzeugten hier nicht länger diese Ohnmacht, die er als Kind empfunden hatte – vor allem an dem Tag, da ein weiterer Brief eingetroffen war, nicht von Fabien, sondern von einem Musikerkollegen, der die Todesnachricht überbrachte –, sondern fiebrige Erregtheit.
Er hatte so lange auf seine Rache gewartet, so viele Mühen auf sich genommen, sich seinen schmerzlichen Erinnerungen mit so viel Willenskraft gestellt, anstatt Vergessen zu suchen – bald würde er dafür belohnt werden.
Einige Monate nach seinem Vater war auch Béatrice gestorben, und jene Zeit war im Rückblick nicht nur grau, sondern schwarz. Er war ins Waisenhaus von Saint-Lazaire gesteckt worden und konnte sich an nichts anderes erinnern, als dass er immer hungrig gewesen war und immer gefroren hatte, dass er von allen anderen verprügelt worden und noch häufiger krank gewesen war. Er war ein weiches, zartes Kind, das Musik liebte und das in jener Hölle zugrunde gegangen wäre, wenn der Schulleiter nicht sein Talent entdeckt hätte – das Talent, das er von seinem Vater geerbt hatte und dank dessen er sich aus dem Elend befreien konnte. Aus dem geschundenen Waisenknaben war ein berühmter und gefeierter Pianist geworden, der ganz Europa bereiste und sein Publikum mit Auftritten erfreute. Doch das Elend der Kindheit lag wie ein Schatten über seinem Leben. Wie seine Mutter überwältigte ihn oft die Schwermut – und er vermochte sie nur abzuschütteln, indem er begann, mehr über den gesichtslosen Vater, den er ebenso hasste wie liebte, zu erfahren.
Im Vermächtnis seiner Mutter hatte er einen Brief gefunden, den Fabien Ledoux wenige Stunden vor seinem Tod geschrieben hatte – sein letztes Lebenszeichen, ehe er sich, wie er darin ankündigte, mit Albert Gothmann duellieren würde. Und hier in Frankfurt hatte er schließlich ein ehemaliges Dienstmädchen der Gothmanns ausfindig gemacht, das seine vage Ahnung bestätigt hatte: Demnach war Fabien offenbar in Rosa Gothmann verliebt gewesen, doch bevor es zum Skandal kam, war Fabien bei einem Brand ums Leben gekommen. Wegen des Briefs glaubte Laurent nicht daran. Sein Vater war nicht einem Unglück zum Opfer gefallen. Sein Vater war kaltblütig erschossen worden.
Er hörte das Knirschen von anderen Schuhen im Schnee, drehte sich um und sah Nicolas auf sich zustapfen. Die Wangen des jungen Mannes waren gerötet, und er bibberte am ganzen Leib. Die Kälte, die Laurent so genoss, bekam ihm weit weniger.
Er ist nicht so abgehärtet wie ich, dachte Laurent, und war einerseits dankbar, dass er dem Sohn eine ungleich behütetere Kindheit hatte bieten können, andererseits nie frei von Neid und leiser Verachtung.
»Hat dich jemand verfolgt?«, fragte er streng.
»Warum bist du so ängstlich, Vater?«, gab Nicolas zurück. »Keiner weiß, dass du Fabien Ledoux’ Sohn bist. Selbst wenn du leibhaftig vor ihnen stündest, würde dir keiner im Hause Gothmann misstrauen. Niemand denkt dort noch an Fabien.«
Laurent wusste, dass er deshalb seinen Plan unauffällig verfolgen konnte, dennoch packte ihn die Wut: Der Tod des Vaters hatte ihn gleich einem glühenden Eisen, das tiefe Narben auf der nackten Haut hinterlässt, geprägt, und hier hatte man ihn einfach vergessen?
Er stieß mit dem Fuß in den Schnee und bezähmte nur mit Mühe seinen Groll.
»Also«, wollte er ungeduldig wissen. »Was gibt es Neues?«
»Ich bin zum Silvesterempfang eingeladen worden.« Nicolas senkte seinen Kopf, als schämte er sich.
Laurent jedoch schlug ihm
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