Die Rosen von Montevideo
aber Carlota hatte sie noch nie dabei ertappt, wie sie liebevolle Gesten austauschten. Aus Gesprächen der Dienstboten hatte sie herausgehört, dass es früher noch schlimmer gewesen war und das Ehepaar, das sich über die Jahre entfremdet hatte, erst nach Tabithas Geburt wieder zueinandergefunden hätte.
»Nun, in jedem Fall bin ich froh, dass es etwas gibt, woran du dein Herz hängst. Ich hatte immer das Gefühl, dass du nicht genau wusstest, was dir Freude bereitet. Umso schöner, dass du nun etwas zielstrebig verfolgst.«
Wieder versank Rosa in Gedanken, und Carlota fragte sich, was sie je selbst mit Leidenschaft getan hatte, und auch, ob sie sie in solchen Momenten mit ihrer Mutter verglich. Valerias Name fiel so gut wie nie, und falls doch, packte Carlota das schlechte Gewissen, weil ihre Großeltern dachten, sie wäre tot, und sie sie in diesem Glauben ließ. Sie wusste zwar selbst nicht genau, was damals passiert und warum die Zwillingsschwestern getrennt worden waren, aber sie fühlte ihren Kummer und hätte ihnen manchmal gerne die Wahrheit gesagt. Allerdings hätte sie dann auch ihre Identität offenbaren müssen und nicht nur die eigene Zukunft riskiert, sondern ebenfalls das Glück mit Nicolas. Und so übermächtig, sagte sie sich dann, war der Kummer von Albert und Rosa nach all den Jahren nun auch nicht mehr.
Nach dem letzten winterlichen Ausflug bot sich kaum eine Gelegenheit, mit Nicolas allein zu sein. Die Weihnachtsvorbereitungen waren in vollem Gange, und im Salon, wo das Klavier stand, wurde der Weihnachtsbaum geschmückt. Immerhin konnte sie den Anlass nutzen, Nicolas ein Geschenk zu machen: ein Paar perlgraue Glacéhandschuhe, um seine geschmeidigen Finger vor der Kälte zu schützen.
Als sie sie ihm überreichte, war sie etwas traurig, denn es war die letzte Gesangsstunde vor den Festtagen. Eben hatten sie ein paar Weihnachtslieder einstudiert, die sie am Heiligen Abend vortragen würde.
»Es wäre so schön, wenn du dabei wärst!«, rief sie.
»Aber das schickt sich nicht! Den Heiligen Abend verbringt man im Kreise der trauten Familie.«
»Nun, ich werde zusehen, dass du zumindest eine Einladung zum diesjährigen Silvesterempfang bekommst.«
Er strich ehrfürchtig über die Glacéhandschuhe. »Sie sind wirklich sehr schön, vielen Dank. Umso beschämender ist es für mich, dass ich gar kein Geschenk für dich habe.«
Sie zögerte kurz, dann überwand sie ihre Bedenken. »Du könntest mir etwas anderes schenken, etwas, was kostbarer ist als Handschuhe.«
»Was denn?«
Sie zitterte vor Aufregung, das Herz schlug ihr bis zum Hals, dennoch folgte sie verwegen ihrer jähen Eingebung. »Wie wär’s mit einem Kuss?«
Kurz starrte Nicolas sie verblüfft an. Sie blickte sich rasch um, sah, dass sie ausnahmsweise allein im Salon waren, und nutzte die Gelegenheit. Als er den Mund öffnete, um zu widersprechen, hatte sie sich schon auf die Zehenspitzen gestellt, sich zu ihm geneigt und ihre Lippen auf seine gepresst. Kurz verharrten sie beide reglos, doch an seinem keuchenden Atem merkte sie, wie sein Widerstand bröckelte. Heftig zog er sie an sich.
Als sie sich wenig später voneinander lösten, waren Carlotas Wangen heiß. Ohne Zweifel – Nicolas küsste viel besser als Adolfos und Mercedes’ Sohn.
Lautlos stapfte Laurent Ledoux durch den Schnee. Die Äste neigten sich unter der schweren, weißen Decke, die kleinen Tümpel waren gefroren, die einzigen Spuren im knöcheltiefen Schnee stammten von ihm oder den wenigen Tieren, die keinen Winterschlaf hielten.
Als er zum ersten Mal im Taunus war, hatte er jenes Fleckchen Erde gehasst. Hier war sein Vater gestorben, hier hatte jener zuvor fern seiner Familie gelebt. Mittlerweile genoss er zwar die Stille der weitläufigen Wälder, doch wenn er auch die Landschaft liebgewonnen hatte – die Menschen, die hier wohnten, waren nach wie vor seine Feinde, besonders die Familie Gothmann.
Laurent konnte sich noch gut an die Verzweiflung seiner Mutter erinnern, die so oft vergebens auf Fabiens Briefe wartete und, falls doch mal einer eintraf, meist enttäuscht war, dass er immer noch nicht seine Rückkehr in Aussicht stellte. Sie hatten in einer einfachen Mietwohnung in einem Vorort von Paris gewohnt, und wenn sie auch nicht frieren und nicht hungern mussten – das Leben war grau und öde, und seine Mutter Béatrice mit jedem Brief, den sie erhielt, unglücklicher. Irgendwann verbrachte sie ihre Zeit damit, einfach nur dazusitzen und
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