Die Rosen von Montevideo
bin schon da, Doña! Halten Sie sich an meinem Arm fest, dann bringe ich Sie sicher ans Ufer!«
Claire traute ihren Sinnen nicht länger, doch statt sich über das unerwartete Wiedersehen zu freuen, erwachte in ihr blanke Wut. Nicht dass Luis jemals besonders humorvoll gewesen war, aber dieser Scherz war an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten! Was sollte das? Wochenlang hörte sie nichts von ihm, und plötzlich tauchte er auf und trieb üble Späße mit ihr!
»Glaubst du, ich habe das Schwimmen verlernt?«, rief sie ihm schnippisch zu. »So alt kann ich gar nicht sein, dass ich nicht aus eigenen Kräften ans Ufer zurückkehren kann.«
Die Strömung trieb sie näher an ihn heran, und erst jetzt sah sie, wie sich in seinem Gesicht basses Erstaunen breitmachte. »Du?«, stieß er hervor.
»Wer denn sonst?«, gab sie zurück. »Wie viele Frauen in Montevideo wagen es wohl, so weit hinauszuschwimmen?«
»Aber …«
Er blickte hilfesuchend zum Strand – und sie sah sie nun selbst: Carlota, Antonio, Monica und Dolores.
Ihre Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. »Was hat denn dein Sohn mit meiner Nichte …«, setzte sie verwirrt an.
Luis hatte sie fast erreicht. Noch wahrte er Abstand, aber die Strömung ergriff sie wieder, und ihre nackten Füße schlugen aneinander. Ein Schauder lief über ihren Körper. Es war wie einst – und doch auch nicht.
»Deine Nichte hat mich gebeten, dich zu retten«, erklärte er.
Claire runzelte die Stirn. »Sie weiß doch ganz genau, wie gut ich schwimmen kann.«
»Du meinst …«
Abermals wanderte ihr Blick zum Strand. Antonio und Tabitha steckten vertraulich die Köpfe zusammen – ein deutliches Zeichen, dass sie einander nicht zum ersten Mal begegneten. »Ich meine, dass sie sich das alles nur ausgedacht haben, um uns zusammenzubringen«, stammelte sie.
»Was bedeutet, dass du deiner Nichte erzählt hast, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte Luis.
»Ja, warum denn auch nicht? Die Erinnerungen sind schließlich das Einzige, was mir geblieben ist.«
Sie musste schreien, um sich über das rauschende Wasser hinweg verständlich zu machen. Eine Weile schwammen sie an gleicher Stelle, sorgsam darauf bedacht, sich nicht noch einmal unbeabsichtigt zu berühren.
Luis schüttelte den Kopf. »Was haben sie sich nur dabei gedacht!«, rief er.
»Um das herauszufinden, sollten wir besser ans Ufer zurückkehren.«
Die ersten Meter Richtung Strand schwammen sie schweigend. Claire warf immer wieder einen verstohlenen Blick auf Luis, wurde aber aus seiner Miene nicht schlau. Sein Gesicht war gerötet – vielleicht nur von der Anstrengung und dem kalten Wasser, vielleicht vor Wut, weil ihn Antonio in diese Lage gebracht hatte, vielleicht aber auch, weil er zutiefst bewegt war – wie sie selbst. Sie kamen immer näher an den Strand, und anstatt sich über das Verhalten ihrer Nichte zu wundern, wuchs ihre Angst, dass sie dort erneut ohne Aussicht auf ein Wiedersehen auseinandergehen würden.
Sie dachte fieberhaft nach, was sie sagen könnte. »Sei Antonio bitte nicht böse«, bat sie schließlich.
Luis’ Kiefer mahlten. »Er hatte kein Recht dazu und deine Nichte auch nicht«, zischte er. »Vorzugeben, du könntest ertrinken – das ist nichts, worüber man Scherze macht.«
»Nun sei doch nicht so streng! Er sorgt für seine jüngeren Schwestern, und das ist gewiss nicht immer leicht für ihn. Kein Wunder, dass ihm das manchmal zu viel wird und er sich eine Frau im Haus wünscht.«
»Er hat sich nie beklagt!«
Claire verdrehte die Augen. »Warum wundert mich das jetzt nicht? Ich nehme an, er kommt ganz nach dir und besitzt jede Menge Pflichtbewusstsein.«
»Du sprichst das so aus, als wäre das etwas Schlechtes«, sagte er vorwurfsvoll.
Sie konnte den sandigen Boden bereits unter den Füßen spüren. Gänsehaut lief über ihre Schultern, als sie sich aus dem Wasser erhob.
»Gewiss nicht«, meinte sie. »Aber du vermittelst immer das Gefühl, dass du sterben würdest, wenn du deiner Pflicht einmal nicht nachkommst. Als ob Scheitern nicht zum Leben gehört und wir uns nicht damit abfinden müssten, auch mal zu versagen.«
»Nun, ich habe damals versagt. Und ich wäre fast gestorben. Ich habe zwei Jahre im Krieg gekämpft – hast du auch nur die geringste Vorstellung, wie schrecklich das war?« Auch er erhob sich aus dem Wasser, auch er fror. Doch seine Lippen bebten wohl nicht nur der Kälte wegen.
»Nein, ich kann es mir nicht vorstellen!«,
Weitere Kostenlose Bücher