Die Rosen von Montevideo
erwiderte Claire. »Ich bin mir sogar sicher, dass es noch schrecklicher war, als du je zugeben würdest. Aber der Krieg ist vorbei, und du lebst. Denkst du nicht, dass es an der Zeit ist, mit der Vergangenheit abzuschließen? Dass du ein Recht darauf hast, glücklich zu sein? Genauso wie deine Kinder, ja, selbst ich?«
Sie standen nur noch bis zu den Knien im Wasser. Ihr entging nicht, wie sein Blick über ihre Gestalt huschte, und ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie nur ein dünnes Untergewand trug, das mehr entblößte als verhüllte. Auch sein Hemd klebte auf seiner Haut. Der Körper darunter war noch sehnig wie einst. Sie wappnete sich insgeheim dagegen, dass er ihr widersprechen und an seiner Unversöhnlichkeit festhalten würde, aber zu ihrem Erstaunen schwieg er. Sie rechnete auch damit, dass er seinen Blick von ihr löste, doch er starrte sie unverwandt an, und obwohl sie beide froren, ihre Lippen gewiss schon bläulich waren und die Zähne klapperten, konnte sie keinen Schritt machen.
Ihm schien es nicht anders zu ergehen, und plötzlich brach es aus ihm hervor: »Ich habe dich vermisst in all den Jahren … so sehr vermisst.«
Claire traten Tränen in die Augen. Sie wusste, dass das seine Art war, ihr zu vergeben. »Ich dich doch auch.«
Plötzlich war es ganz selbstverständlich, sich aus der Starre zu lösen. Sie wateten ans Ufer, gingen dort aufeinander zu. Nur ein kurzer Abstand trennte sie noch voneinander. Gleich würden sich ihre Hände berühren, gleich ihre Körper sich aneinanderschmiegen, gleich die Lippen zum Kuss treffen – und sie beide vergessen, dass ihre Nichte und seine Kinder in der Nähe waren und auch jede Menge andere Menschen, die am Strand spazierten und sie sehen konnten.
Doch ehe sie sich endlich in die Arme fielen, rief jemand ihren Namen.
Claire zuckte zusammen, fuhr herum und konnte kaum glauben, wer da auf sie zukam.
»Valeria …«
Die vergangenen Jahre … Jahrzehnte erschienen ihr plötzlich kurz wie ein Wimpernschlag. Jener Tag, an dem Valeria bei Pilar ihre beiden Töchter geboren und das Schwächere ihr anvertraut hatte – jener Tag auch, da Luis sich endgültig von ihr abgewandt hatte und sie in ihrer Trauer und Wut aller Welt erzählt hatte, Valeria wäre tot, schien nur Stunden zurückzuliegen.
Claire musterte ihre Cousine. Ihre Haut war gebräunt wie die einer Bäuerin, die Falten um den Mund waren tief, die Haare nicht mehr leuchtend wie einst. Überdies musste sie beim Erdbeben verletzt worden sein, wie viele kaum vernarbte Wunden es bewiesen. Doch so ausgezehrt und gealtert sie auch war – sie hatte immer noch den wachen, hungrigen, trotzigen Blick einer Unbeugsamen.
»Valeria … was machst du hier?«
Claire trat zu ihr. Kurz wusste sie nicht, was nun zu tun war, aber dann breitete sie einfach ihre Arme aus und umarmte sie. Oft hatte sie Groll gegen sie empfunden – nicht nur wegen Luis, sondern auch, weil Valeria nie auf ihre Briefe geantwortet hatte. Aber nun, da Luis an ihrer Seite war und sich versöhnlich zeigte, war kein Hass mehr auf die Cousine, nur unendliches Glück und Erleichterung, der Frau endlich wiederzubegegnen, der sie in der Kindheit und Jugendzeit so nahegestanden hatte.
Zuerst versteifte sich Valeria, dann ergab sie sich der Umarmung. »Ich habe zu lange gewartet«, stammelte sie mit rauher Stimme, »viel zu lange, um deine Hilfe anzunehmen, aber jetzt …« Sie schluckte schwer. »Ich komme soeben von deiner Quinta, habe dich dort aber nicht angetroffen. Deine Haushälterin meinte, du wärst am Strand, und da es nicht weit ist, dachte ich, ich komme hierher …«
Sie brach ab. In ihrem stolzen Gesicht breitete sich Verwirrung aus, denn eben hatte sie Luis erkannt, der hinter Claire stand. Claire selbst drehte sich um und bemerkte, dass nicht länger Wehmut und Sehnsucht in seinen Zügen stand, sondern blanke Wut.
Claire begriff erst nicht, wie seine Gefühle so schnell umschlagen konnten, aber dann sah sie, dass Valeria von einem Mann begleitet wurde. Sie hatte Valentín Lorente nur einmal gesehen – damals, als sie ihn schwer krank und verletzt aus dem Gefängnis befreit hatte –, doch sie erkannte ihn sogleich wieder. Auch sein Gesicht kündete von Entbehrungen – die Knochen stachen spitz hervor, der Bart war schief geschnitten, das Haar stand wirr und verfilzt nach allen Seiten ab. Dennoch war er ein attraktiver Mann mit jenen fast schwarzen Augen, die funkelten, als würde ein stetes Feuer darin
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