Die rote Agenda
Kalifornier
das nicht getan haben, könnt ihr sicher sein, dass wir auch keine Barrieren
anbringen, denn schließlich sind wir eine Kolonie von Feiglingen.«
Fast alle
Anwesenden wussten, dass sich der Enkel von Donna Agata im Jahre 2004 mit knapp
fünfundzwanzig Jahren durch einen Sprung von der Golden Gate Bridge das Leben
genommen hatte. Unglücklicherweise hatte zur gleichen Zeit ein Regisseur
beschlossen, einen Dokumentarfilm über die Selbstmorde auf der Brücke zu
drehen, und irgend-wo eine Überwachungskamera installiert, die viele
Selbstmorde direkt aufgenommen hatte, einschließlich den des Enkels von Donna
Agata. Der Film mit dem simplen Titel Jumpers hatte,
als er herauskam, für große Aufregung gesorgt, da er, neben den unvermeidlich
dramatischen Bildern, [336] auch Zeugnisse von Freunden und Verwandten der
Suizidopfer enthielt. Doch was jeden erschütterte, der den Film zu Ende
schaute, war die Sequenz, die den Enkel Donna Agatas betraf. Man sah einen
jungen Mann mit schwarzen Jeans, schwarzer Sportjacke und schwarzen Stiefeln,
der vor dem Sprung lange auf und ab ging, sich schließlich dem Geländer
näherte, dann wieder davon entfernte, als hätte er es sich anders überlegt, und
erneut auf dem Absatz kehrtmachte. Es war eine herzzerreißende Vorstellung.
Doch die sadistische List des Regisseurs bestand nun darin, die ihn betreffende
Sequenz zu zerstückeln und sie zwischen die Bilder anderer Selbstmörder in die
Dokumentation einzufügen. So entstand beim Zuschauer der Eindruck, der
schwarzgekleidete junge Mann mit dem langen, im Wind wehenden pechschwarzen
Haar sei ein Komparse, der die Unentschlossenheit jedes Selbstmörders nur
spiele und der wie alle Komparsen dieser Welt nach getaner Arbeit nach Hause
gehen würde. Doch dem war nicht so. Gegen Ende des Films entfernte sich der
junge Mann in Schwarz zum wer weiß wievielten Mal vom Geländer, und es sah aus,
als ob er definitiv von seinem wahnwitzigen Vorhaben ablasse. Doch stattdessen
wandte er sich, als hätte ihn jemand gerufen, ruckartig um, sprang mit einem
Satz auf das Geländer, blieb ein paar Sekunden bewegungslos und aufrecht darauf
stehen, mit dem Rücken zur Kamera wie vor einem Erschießungskommando, bevor er
die Arme ausbreitete, sich wie ein Taucher nach hinten fallen ließ und in
dieser Haltung im aufgewühlten Wasser des Ozeans verschwand.
»Das werde
ich diesem Amerikaner nie verzeihen«, sagte Donna Agata traurig, »dass er
während des ganzen Films [337] beim Zuschauer die Illusion erzeugt hat, es würde
nicht zu diesem verdammten Sprung kommen.«
Ein junger
Tischgenosse schüttelte den Kopf. »Sicher wird auch diese Brücke, wenn sie
nicht vorher bei einem Erdbeben einstürzt, vielen Unglücklichen als Sprungbrett
dienen«, bemerkte er mitfühlend.
»Aus
geologischer Sicht ist der Bau genauso unsinnig«, schaltete sich ein
Tischnachbar Donna Agatas ein. »Wir wissen alle, dass die beiden Küsten, die
kalabrische und die sizilianische, sich kontinuierlich verschieben, wobei die
kalabrische Seite sich stärker und schneller als die sizilianische hebt. Es ist
einfach verrückt, eine Brücke von solcher Größe in einem Erdbebengebiet zu
bauen.«
Am Tisch,
wo die Hausherrin und ihre engsten Freunde saßen, war es still geworden,
niemand hatte Lust, etwas über diese Brücke hinzuzufügen, und noch weniger über
den armen Enkel Donna Agatas. Dann begann irgendjemand vorsichtig von etwas
ganz anderem zu sprechen, und die Stimmung besserte sich.
Zu dieser
kleinen Gruppe Privilegierter rund um Leonella Chiaramonte gehörten auch Betta
Malacrida und ihre Freundin Elvira. Die anderen Gäste, wohl um die hundert,
waren auf die Tische im Park und im Salon der Villa verteilt.
Betta, die
sich einzig und allein für die Erzählung Donna Agatas interessiert hatte, tat
nun wieder nur so, als würde sie zuhören, und zwang sich zu unverbindlichen
Antworten, wenn Elvira versuchte, sie in die Gespräche hineinzuziehen.
Mit ihrem
Kopf war sie woanders. Nicht einmal das eindrucksvolle nächtliche Panorama und
der Ausbruch des [338] Ätnas konnten sie von der Erinnerung an das Telefonat
ablenken, das sie am Nachmittag mit Lorenzo geführt hatte.
Ihr Mann
hatte sie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er gerade in Palermo angekommen
sei, wo er am nächsten Tag ein Arbeitstreffen habe, doch am Abend zu ihr nach
Taormina kommen werde. Im ersten Moment hatte Betta sich über dieses Programm
sehr gefreut, doch im Laufe der Stunden war ihr
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