Die rote Agenda
und
gehen ungestört unseren Geschäften nach.« Doch die Regierung respektierte die
Abmachungen nicht, erließ ein paar repressive Gesetze und erregte damit den
Zorn der Corleonesen – in Sizilien wäre eine Untersuchung wie die der Mani
Pulite niemals möglich gewesen. Und heute, glauben Sie mir,
wissen die Ordnungskräfte nicht einmal mehr, wer die wirklichen Bosse der
Gewinnermafia sind. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Cosa Nostra auch von
Teilen der Geheimdienste, in- oder ausländischen, geführt wird. Als General
Dalla Chiesa, damals noch Oberst, in den sechziger [327] Jahren nach Palermo
geschickt wurde, musste er gegen seinen Willen das Einverständnis zwischen
Politik und Mafia akzeptieren. Jahre später, als er als General zurückkehrte,
waren all seine alten Kontaktleute von der neuen Mafia besiegt worden; doch als
er getötet wurde, wurden seine Mörder alle liquidiert, also in einen Hinterhalt
gelockt und zu Seife gemacht. Das mag paradox erscheinen, und das ist es auch,
doch die alten Kontaktleute wollten auf diese Weise Dalla Chiesa rächen. Wenn,
wie gemunkelt wird, der erste Richter dazu beitrug, einen Mafiakrieg
auszulösen, indem er ein paar Paten aus dem Exil zurückrief, dann war das nur richtig.
Denn einzig durch einen Mafiakrieg kann die »physische« Rettung für einige von
uns kommen. Ich verfluche den Tag, an dem ich beschlossen habe, in die Politik
zu gehen. Ich könnte Professor in Turin oder Mailand sein. Auf Sizilien lastet
ein Fluch…
Diese erstaunlichen Worte des Politikers genügten, eben weil sie
aus den neunziger Jahren stammten, um den Verantwortlichen zu verstehen zu
geben, dass in den nächsten Folgen eine desaströse Enthüllung nach der anderen
kommen würde.
Der
Präsident befand sich auf dem Flug nach Messina, da er die Brücke, die
Kalabrien mit Sizilien verbinden würde, einweihen sollte, und las den Artikel
zum wiederholten Mal. Jetzt herrschte offener Krieg. Wenn es dem General nicht
gelänge, die Agenda und die in Umlauf befindlichen Kopien zu vernichten, würden
er und seine Partei sich gegen eine beschämende Anklage verteidigen müssen,
neben der ihre langjährigen Betrügereien nichts als Lappalien waren.
[328] Durchs
Fenster betrachtete er die weißen Wolken und suchte in ihren Formen nach einem
günstigen Vorzeichen, aber er sah keins. Die Atmosphäre, die seit Tagen im
Quirinalspalast herrschte, war so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Leere
breitete sich um seine Partei herum aus, um die Mehrheit, das halbe Parlament,
die Abgeordnetenkammer, eine allgemeine Flucht, unaufhaltsam und hemmungslos.
Seine
letzten Hoffnungen, zu retten, was zu retten war, ruhten auf dem General, der – koste es, was es wolle – die Agenda und die noch in Umlauf befindlichen Kopien
vernichten musste. Ein schwieriges, aber kein unmögliches Unternehmen.
Mit einem
dankbaren Lächeln dachte er an das unerwartete Gespräch, das er noch in Rom mit
einem hohen Funktionär des Geheimdienstes geführt hatte. Der Mann, der wohl
dachte, es wäre besser, sich den Präsidenten der Republik gewogen zu halten,
falls der geheime Staatsstreich misslingen sollte, hatte ihm nicht nur
berichtet, wo sich dieser Professor Astoni aufhielt, sondern auch, dass das
Original und die existierenden Kopien der Agenda alle in dem safe house verwahrt würden.
Das Lächeln
auf seinen Lippen wurde noch etwas breiter. Wenn die Elite es schaffen wollte,
das Land von ihm zu befreien, durfte sie nicht vergessen, dass das Netz zu
seinem Schutz sehr eng geknüpft und in der Lage war, auch Alimante und seinen
Spionen Probleme zu machen.
Er ließ
sich einen Tomatensaft mit viel Tabasco bringen. Nachdem er gierig getrunken
hatte, fühlte er sich gestärkt. Eine halbe Stunde zuvor hatte er seine Dosis [329] Antidepressiva
genommen, und die Tabletten begannen zu wirken. Er durfte nicht verzweifeln,
sagte er sich. Auch wenn sie gegen ihn ermitteln würden, so bestand doch die
Chance, dass bei einem Prozess dieser Größenordnung die Verteidigung
erfolgreich die Glaubwürdigkeit von Fotokopien in Zweifel ziehen könnte.
Sein
Sekretär kam und brachte ihm das Notebook.
»Ein
Skype-Gespräch für Sie, Herr Präsident.«
Überrascht
nahm er den Computer. Im Allgemeinen benutzte seine Familie dieses absolut
nicht ortbare Kommunikationsmittel, doch er hatte wenige Minuten zuvor schon
mit seiner Frau gesprochen. Früher hatte sich auch der Senator dieser
Möglichkeit bedient und ihm erklärt, es sei die einzig
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