Die rote Agenda
klargeworden, dass sie in
Wirklichkeit lieber noch ein paar Tage allein verbracht hätte. Sie, die immer
so sehr unter der Abwesenheit ihres Mannes gelitten hatte, wartete zum ersten
Mal nicht ungeduldig darauf, ihn wiederzusehen.
Während sie
mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen den Blick von einem Tischgenossen
zum nächsten schweifen ließ, sagte sie sich, dass es immer noch die Worte des
Mediums waren, die sie beeinflussten, und sie schämte sich dafür, so dumm und
abergläubisch zu reagieren. Und doch konnte sie nicht anders.
Zum Dessert
wurde das Streichorchester, welches das Abendessen mit klassischer Musik
begleitet hatte, durch eine Rockgruppe ersetzt, und viele begannen zu tanzen.
Betta ging
sich frisch machen, und Elvira folgte ihr. Als sie in dem riesigen Bad ganz aus
Marmor, Messing und Spiegeln waren, musterte Elvira sie besorgt.
»Was ist
denn los mit dir? Du kommst mir angespannt vor.«
»Ich habe
Kopfschmerzen«, log Betta. Sie ärgerte sich, dass sie offensichtlich unfähig
war, ihre schlechte Stimmung zu verbergen. »Und außerdem geht mir die Erzählung
von Donna Agata nicht aus dem Kopf.« Und das stimmte: Das Bild des jungen
Selbstmörders ließ sie nicht los.
[339] »Das tut
mir leid, nimm ein Aspirin und lass dir dieses wunderbare Fest nicht verderben.
Zugegeben: Die Geschichte von Agata ist schrecklich. Weißt du, als die Polizei
ins Apartment von Antonio – so hieß der arme Kerl – gekommen ist, hat sie einen
Zettel gefunden, auf dem geschrieben stand: ›Ich gehe zur Golden Gate Bridge.
Wenn mir dort jemand zulächelt, springe ich nicht.‹ Das tut noch mehr weh.«
»Was für
eine furchtbare Geschichte«, murmelte Betta.
»Ja. Und
weißt du, was Agata jedes Jahr macht? Sie verbringt einen Monat in San
Francisco und geht jeden Tag zwei Stunden auf der Golden Gate Bridge auf und
ab.«
»Lieber
Himmel, warum das denn?«, fragte Betta.
Elvira
seufzte. »Um die Selbstmordgefährdeten zu überzeugen, nicht zu springen. Ihr
Enkel hat schriftlich hinterlassen, dass er nicht gesprungen wäre, wenn ihm
jemand zugelächelt hätte, und nun versucht sie den anderen zu helfen, es nicht
zu tun. Es heißt, es sei ihr manchmal sogar gelungen. Ich habe das Thema mit
ihr nie angesprochen, es ist zu persönlich, zu privat. Aber man hat es mir
erzählt.«
»Die arme
Frau!«, rief Betta aus. »Sie hat meine ganze Bewunderung. Dafür braucht es
Zivilcourage!«
Diese
Geschichte nahm Betta furchtbar mit. Elvira bemerkte es. »Sprechen wir nicht
mehr darüber! Sag mir, wann kommt denn Lorenzo an?«
»Morgen
Abend.«
»Kann er
ein paar Tage bleiben?«
»Ich weiß
nicht, er hat es mir nicht gesagt. Das wird von seiner Arbeit abhängen. Ich
weiß, dass er morgen den Präsidenten der Region und einen Referenten trifft.«
»Arbeit,
nichts als Arbeit!«, stöhnte Elvira. »Und wofür? [340] Es geht doch alles den Bach
runter. Sogar die Reichen werden ärmer, kaum vorzustellen, wie es den anderen
ergeht! Das lohnt sich doch nicht, wir sollten uns amüsieren, wenigstens
solange wir können…«
Betta
zuckte verdrossen mit den Schultern. »Ja, warum nicht. Der Untergang des
Römischen Reichs…«
»Genau das
meine ich. Auch wenn wir nicht das Alibi vom Blei im Wasser haben, um zu
vertrotteln, gibt es doch so viel Dreck, mit dem sie uns vergiften, dass wir
das gleiche Ende nehmen werden wie unsere Vorfahren, wenn nicht gar ein
schlimmeres. Sieh dir die Amerikaner an.« Elvira zuckte die Achseln, während
sie sich die Nase puderte und sich in dem riesigen Barockspiegel betrachtete.
»Hör mal,
meinst du, Leonella ist beleidigt, wenn ich zurück ins Hotel gehe? Die
Kopfschmerzen werden schlimmer«, sagte Betta.
Ihre
Freundin schüttelte Kopf. »Ach was! Sie ist ganz damit beschäftigt, diesen
Gigolo aus Mailand zu betören, den sie eingeladen hat. Manchmal verstehe ich
sie wirklich nicht, sie hat einen seltsamen Geschmack…«
Die beiden
Freundinnen kehrten auf die Terrasse zurück. Das Fest war auf dem Höhepunkt,
und die Gäste schienen sich zu amüsieren. Als Leonella Chiaramonte erfuhr, dass
Betta ins Hotel zurückwollte, bot sie ihr an, sie von ihrem Chauffeur fahren zu
lassen.
»Ich kann
ein Taxi nehmen«, wehrte sich Betta.
»Kommt gar
nicht in Frage. Ich rufe sofort Gino, er wird dich fahren. Es tut mir leid,
dass du dich nicht gut fühlst, Betta, ich rufe dich morgen an, um zu hören, wie
es dir geht.«
[341] »Danke,
Leonella, und meinen Glückwunsch zu dem Empfang. Ein echter
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