Die rote Antilope
Sanna lief das letzte Stück bis zur Kuppe voraus. Dann hörte er, wie sie schrie, und sah, daß sie auf und nieder hüpfte, als hielte sie ein unsichtbares Springseil in den Händen.
Als er sich mit der Hand über den Mund fuhr, merkte er, daß wieder Blut kam. Er wischte es an der Innenseite des Mantelärme ls ab, bevor er auf den Hügel stieg, wo Sanna ungeduldig auf ihn wartete.
Zu ihren Füßen breitete sich das Meer aus.
- Ist es das, wo wir hinwollen?
Daniel machte sich Sorgen, daß es womöglich gar nicht das Meer war, zu dem sie gelangt waren, sondern einer von den Seen, die er bei seinen Reisen mit Vater so viele Male gesehen hatte. Auf der anderen Seite des Wassers erstreckte sich ein Küstenstreifen. Aber als er der Küstenlinie mit den Augen folgte, stellte er fest, daß sie sich im Dunst verlor. Dort ging das Meer weiter. Da wußte er, daß sie am Ziel waren.
- Wo ist das Schiff? fragte Sanna. Sie blickte immer noch unruhig über ihre Schulter.
- Ich weiß nicht, erwiderte Daniel. Wir müssen es suchen.
Sanna sah ihn an und bekam einen Wutanfall.
- Wärst du bloß nicht so verdammt schwarz, schrie sie. Sie werden uns entdecken.
- Nicht, wenn es dunkel ist. Dann sehen sie mich weniger, als sie dich sehen.
Sanna begann, den Hang hinunterzugehen. Daniel folgte ihr.
Sanna machte es genauso wie am Tag zuvor, sie verließ Daniel und kehrte von irgendwoher mit Essen zurück. Sie versteckten sich in einem Gehölz und warteten auf den Abend. Daniel schlummerte ein. Als er aufwachte, war es fast schon dunkel. Sanna schlief an seiner Seite. Sie hatte wie ein kleines Kind den Daumen in den Mund gesteckt. Daniel versuchte sich zu erinnern, was er geträumt hatte, ob darin irgendeine Botschaft für ihn gewesen war. Aber in seinem Kopf herrschte Stille. Er tastete nach dem Holzspan in seiner Tasche.
Behutsam weckte er Sanna. Sie schrak hoch und hielt sich die Hände vors Gesicht, als ob er sie schlagen wollte.
- Wir müssen weiter, sagte er. Sanna fror.
- Wie sollen wir ein Schiff finden, wenn es fast dunkel ist?
Daniel wußte es nicht. Aber irgendwo mußte es ein Schiff geben. Wenn sie es bis zum Meer geschafft hatten, konnten die Schiffe nicht mehr weit sein. Der Wind ließ schon die Segel an den Masten flattern, die Daniel in sich trug.
Sie kamen durch ein Dorf, das in tiefer Ruhe lag. Ein einsamer Hund kläffte ein paarmal. Dann war es wieder still. Daniel hatte keinen anderen Plan, als daß sie auf dem kürzesten Weg zum Wasser gelangen mußten. Jetzt war er es, der die Führung übernahm. Sanna folgte ihm auf den Fersen und hielt sich an seinem Mantel fest.
Sie gingen auf einem Felsrücken am Meer entlang, das in der Dunkelheit rauschte.
- Wo ist das Schiff? quengelte Sanna. Wo ist das Schiff? Daniel antwortete nicht.
Sie kamen zu einigen Treppenstufen aus Holz, die zum Wasser hinunterführten. Daniel nahm den Duft von Teer wahr. Also mußte es in der Nähe Schiffe geben. Als sie unten am Strand waren, fanden sie sich von lauter umgedrehten Ruderbooten umgeben. An einem schmalen Steinpier lagen ein paar größere Boote, die Segel um die Masten gewickelt. Daniel war enttäuscht. Die Schiffe waren klein. Sanna kniff ihn besorgt in den Arm.
- Was machen wir jetzt?
Daniel sah sich um. Er war jetzt wie Kiko, auf der Jagd nach einer Beute, nicht nach einem Tier, aber nach einem Schiff.
- Warte hier, sagte er. Ich muß suchen.
- Nein, sagte sie und kniff ihn wieder in den Arm. Du gehst nicht von mir weg.
Sie hielt sich fortwährend an seinem Mantel fest, als wäre sie blind. Oft stolperte sie, und Daniel dachte, daß sie wirklich sehr ungeschickt war.
Plötzlich entdeckte er den Schein eines Feuers weit draußen auf dem schmalen Pier. Am Feuer saß ein Mann mit einem Becher zwischen den Händen, den er hin und wieder zum Mund führte.
Er wartet auf uns, dachte Daniel. Es kann keinen anderen Sinn haben, daß er hier sitzt.
Sie gingen auf den Steinpier hinaus. Daniel klapperte laut mit den Holzschuhen, damit der Mann sich nicht erschreckte. Er sah in ihre Richtung, den Becher in der Hand. Sie liefen bis zum Feuer hin. Der Mann war alt. Er hatte einen langen Bart und eine löchrige Mütze auf dem Kopf.
- Sind das Trolle, die mich besuchen kommen?
- Wir brauchen ein Schiff, sagte Sanna. Das uns von hier wegbringt.
Der Mann sah sie forschend an. Daniel hatte den Eindruck, daß er keinen Schrecken bekommen hatte. Das war das Wichtigste. Sanna hielt ihm das Geld hin, das ihr
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