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Die rote Farbe des Schnees

Die rote Farbe des Schnees

Titel: Die rote Farbe des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Holmy
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Klageschreien
unterbrochen wird. Das Gesinde betrauert seine toten Kinder. Unter den nahe am
Turm liegenden Leichen kann Joan Blanche nicht ausmachen, was sie hoffnungsfroh
den Wehrgang rund um den Wohnturm abschreiten lässt. Immer wieder späht sie mit
eingezogenem Kopf unter dem Dach hervor verstohlen nach unten in die purpurne
Farbe des Schnees. Dann endlich erblickt sie Blanche vor sich auf dem Wehrgang.
Scheinbar entspannt sitzt diese auf den Holzbohlen, hat den Kopf mit
geschlossenen Augen gegen die Brüstung gelehnt. Doch sie muss unsäglich
frieren. Das Kleid hängt ihr in Fetzen vom Leibe und bedeckt nur noch spärlich
ihren geschundenen Körper. Sie ist übel zugerichtet. Ihr Gesicht ist
geschwollen, ein Auge und die Wangenknochen blutunterlaufen, die Mundwinkel
eingerissen. Man hat ihr das herrliche Haar auf Kinnhöhe abgesäbelt. Bissspuren
bedecken ihren Hals und das Dekolleté. Joan empfindet ein überwältigendes
Mitgefühl. Sie lässt sich neben ihr nieder, streckt eine bebende Hand aus und
streicht ihr sanft übers Haar. Blanche öffnet die Augen, die erschreckend leer
blicken. Joan nimmt sie in die Arme und findet lange keine Worte. Unliebsame
Tränen bahnen sich ihren Weg. Sie wischt sie sich unauffällig weg. Blanche soll
ihre Trauer nicht bemerken. Stattdessen will sie ihr Mut machen. Doch zu ihrer
Überraschung bringt sie keinen Ton heraus. Blanche weint leise vor sich hin,
hat Joan dankbar an sich gezogen. Joan kann es nicht länger ertragen. Sanft
löst sie sich von ihr, tupft ihr behutsam mit dem Ärmel die Tränen aus dem
Gesicht und wartet einfach, dass Blanche von selbst erzählt.
    „Es waren so viele“, flüstert
diese endlich irgendwann heiser. „Nie hätte ich geglaubt, dass jemand zu so
etwas fähig wäre.“ Ihre Stimme geht stockend. Sie ist kurz davor, die Fassung
zu verlieren. „Ich kann mir nicht vorstellen, Raymond je wieder ...“, ein
ersticktes Schluchzen schneidet ihr das Wort ab.
    Joan streicht ihr aufmunternd
über den Rücken. „Du bist stärker, als du glaubst. Du wirst darüber
hinwegkommen.“ Blanches verächtliches Schnauben bezeugt ihr, dass diese darüber
ganz anderer Auffassung ist.
    „Gott Joan. Du weißt ja nicht,
was du da sagst“, flüstert sie weinerlich. „Wie habe ich mir gewünscht, mich
wie du verteidigen zu können. ... Ich war ihnen gegenüber absolut wehrlos.“
Fahrig wischt sie sich die Nase am Ärmel ihres Kleides ab, blickt sie nunmehr
trotzig an. „Dir wäre es sicher anders ergangen. Vermutlich hättest du sie
getötet, noch ehe sie ihre dreckigen Schwänze hervorgeholt hätten. Also
verschone mich mit deinem gutgemeinten, doch völlig aberwitzigen Trost!“
    Joan hat die Hände mit
gesenktem Blick in den Schoß gelegt. „Stell dir vor, selbst mir ist es schon so
ergangen.“ Verletzt blickt sie in das schmerzlich überraschte Gesicht ihrer
Freundin und erhebt sich. „Allerdings war es mir vergönnt, ihn das wenig später
mit dem Leben zahlen zu lassen.“
    Blanche nickt wortlos, stützt
den Kopf matt auf ein angewinkeltes Bein und schließt Augen. Betretenes
Schweigen hängt erstickend zwischen ihnen. Als Joan die dicken Tränen gewahrt,
welche Blanche übers verquollene Gesicht kullern, hockt sie sich mitfühlend
wieder neben sie.
    Blanche fährt sich mit beiden
Händen übers Gesicht, um diese dann darauf ruhen zu lassen. „Bitte bitte Joan,
sage mir, dass sie mein Ungeborenes nicht getötet haben. ... Es bewegt sich
nicht mehr, seitdem sie ...“, sie bricht schluchzend ab.
    Joan nimmt sie in die Arme und
wiegt sich sanft mit ihr vor und zurück. Blanche beruhigt sich allmählich,
blickt sie schließlich gefasst mit geröteten Augen an.
    „Wie weit bist du“, fragt Joan
anteilnehmend, doch Blanche scheint außerstande, ihr darauf antworten zu
können. Mit schüttelndem Kopf hebt sie ratlos die Schultern und kämpft unter
vernehmbarem Schniefen die Tränen herab.
    Kurzentschlossen erhebt sich
Joan und streckt ihr die Hände entgegen. „Komm hoch, Blanche. Wir werden gleich
haben, ob es noch lebt.“
    Ergeben reicht ihr Blanche die
Hände und wird kraftvoll auf die Füße gezogen. Joan kniet sich vor sie, drückt
ein Ohr gegen Blanches leicht gewölbten Unterleib und lauscht angestrengt,
während sie sich einen Finger über den Mund gelegt hat. Sie lauscht
beunruhigend lange, woraufhin sie schließlich mit den Fingerkuppen einer Hand
kurz und kräftig gegen den Bauch stößt, um dann wieder ihr Ohr daran zu legen.
Dann plötzlich

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