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Die rote Farbe des Schnees

Die rote Farbe des Schnees

Titel: Die rote Farbe des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Holmy
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Beruhigend streicht sie dem Mädchen übers Haar.
    „Gut gemacht“, erklärt sie mit
aufrichtiger Hochachtung. „Du hast sehr klug gehandelt, Kleines.“ Behutsam löst
sie sich von Isa, blickt ihr eindringlich ins bläulich verfärbte Gesicht. „Wo
ist Gabriel, Isa?“
    Deren blaue Lippen erbeben.
Bittere Tränen brechen plötzlich aus dem Kind hervor, indes es sich wieder an
Joans Hals klammert. Diese ist zutiefst beunruhigt. Raymonds niedergeschlagene
Miene rührt sie im Innersten ihres Herzens und sie fragt sich verbittert, wie viele
Kinder ihm der Herr wohl noch zu rauben beliebt. Wie abwesend küsst sie Isas
Stirn. „Was ist mit deinem Bruder?“
    „Er bewegt sich nicht mehr und
ist eiskalt“, kommt die weinerliche Antwort.
    Joan sinkt der Mut. Sie
räuspert sich vernehmlich. „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber könntest du
ihn herausholen, Isa? Du bist die Einzige hier, die es vermag.“
    Isa schüttelt betrübt den Kopf.
„Ich hab’s ja versucht. Aber es ging nicht. Er ist mir zu schwer.“ Sie
schluchzt herzergreifend. „Ist er tot, Joan?“
    „Ich hoffe nicht“, erwidert
diese aufrichtig, doch wenig tröstlich. „Vater, wir brauchen hier eine der
jungen, schlanken Mägde und Isa benötigt dringend ein warmes Bad, damit sie
sich nicht den Tod holt. Ich bleibe hier bei Gabriel.“
    Raymond nickt schweigend, nimmt
Isa hoch und balanciert mit ihr zurück über den schmalen Pfad. Bei Blanche
angelangt, tauscht er mit dieser flüchtig ein paar Worte, um sich gleich darauf
weiter zum Felsentor aufzumachen. Joan indes macht sich bereit, den Kopf erneut
zum Bau hinein zu stecken, um Gabriel durch ihre Stimme wenigstens einen Hauch
von Nähe zu vermitteln, sollte er noch am Leben sein. Da fuchtelt Blanche
plötzlich wie wild mit den Armen zu ihr herüber. Schwerfällig rappelt sich Joan
daraufhin auf und wankt zu ihr. Unversehens greift ihr Blanche an die Taille,
um ihr schweigend die Gürtelschnalle zu öffnen. Joan lässt es erstaunt zu.
    „Ich weiß nicht wieso“, bemerkt
Blanche versonnen, markiert das Gürtelloch, in welchem der Dorn saß, mit einem
ihrer Finger, windet sich den Gurt selbst um und schließt ihn an der
Markierung. „Doch scheint mein schwangerer Leib um eine kleine Spanne schlanker
zu sein als dein unschwangerer“, erklärt sie verwirrt, wobei sie den Gürtel
zwischen voneinander abgespreiztem Daumen und Mittelfinger vor ihrem gewölbten
Bauch auf Abstand hält.
    „Wie kann das sein“, fragt sich
Joan verwundert, winkt jedoch gleich darauf ab. „Das sollte reichen, um durchs
Eingangsloch zu passen.“ Aufmunternd nickt sie Blanche zu. „Dann komm. Du gehst
vor mir hinüber, damit ich reagieren kann, falls dir schwindlig wird.“ Blanche
hat sie bereits zur Seite geschoben und sich an ihr vorbei auf den schmalen
Pfad gedrängt.
    „Vorsichtig, Blanche“, gemahnt
Joan sie erschrocken. „Wenn du abstürzt, ist nichts gewonnen.“
    Diese setzt zaghaft einen Fuß
vor den anderen, tastet mit der Rechten haltsuchend am Felsen entlang. Joan ist
dicht hinter ihr. „Richte den Blick auf die Höhle, nicht nach unten“, rät sie
ihr, bereut es jedoch sofort, da sie Blanche offenbar erst auf die Idee
brachte. Denn diese blickt nun nach unten, mit der Folge, dass sie beängstigend
schwankt.
    „Blanche!“ Joan hat sie
erschreckt am Arm gepackt.
    „Stimmt“, verkündet diese
keuchend, bevor sie wieder nach vorn auf die kleine schwarze Öffnung im Felsen
blickt und sich weiter darauf zu hangelt.
    Joan bläst angespannt die Luft
aus und folgt ihr.
    Sie erreichen den Bau schneller
als erwartet. Unvermittelt stürzt sich Blanche in die gähnende Schwärze, als
gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Versonnen beobachtet Joan die zierlichen
Schuhe, die nach und nach vom Dunkel geschluckt werden. Sie überlegt, dass
Mutterliebe scheinbar keine Hindernisse kennt, dass sie alles überwindbar
macht, sich selbst eingeschlossen. Offenbar unterscheidet sie sich in dieser
Hinsicht kaum von der Liebe zu einem Mann.
    Als sie Schritte vernimmt,
blickt sie zerstreut zur Seite. „Wenn man an den Teufel denkt“, brummt sie und
beobachtet, wie Malcom scheinbar gelassen über den schmalen Pfad auf sie
zugeschlendert kommt. In Erwartung ihres sicher anstehenden Disputes schlägt
ihr das Herz höher. Schließlich erreicht er sie, lehnt sich wortlos neben ihr
an die Felswand, den unergründlichen Blick geradeaus in die Ferne gerichtet.
Die Ruhe, die er ausstrahlt, ist trügerisch, wie sie weiß. In

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