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Die rote Farbe des Schnees

Die rote Farbe des Schnees

Titel: Die rote Farbe des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Holmy
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zu Ohr rasiert und fällt ihm hinten lang bis auf den
Rücken herab. Es leuchtet wie sein langer Bart unheimlich in der Nacht. Er ist
schlank und scheinbar von durchschnittlicher Größe, seine Haltung gerade. An
den Handgelenken lugen bläuliche Tätowierungen unter den weiten Ärmeln hervor.
    Joan setzt sich kerzengerade
hoch und kann den Blick nicht von der würdevollen Gestalt abwenden. Ihr ist,
als ziehe er sie an, wie das Licht die Motte. „Wer bist du? Erkläre mir, was du
meinst“, wispert sie ehrfürchtig.
    Er runzelt die Stirn. „Du weißt
sehr wohl, was ich meine. ... Ich bin Rian, der Heilmann des Dorfes.“
    Joan kommt auf die Beine und
blickt erwartungsvoll auf ihn herab. „Du bist einer vom Alten Volk. Druide,
deinem Äußeren nach zu schließen.“
    Der Alte winkt ab. „Meine
Urahnen durften sich zu Recht so nennen. Ich hingegen wage es nicht mehr. Es
wäre eine Anmaßung. Zu viel des alten Wissens ging verloren. Ich bin nur noch
trauriger Anhänger einer längst untergegangenen Religion“, erwidert er
selbstkritisch. „Doch hier geht es nicht um MICH. ... Du scheinst nicht um die
Bedeutung deines Könnens zu wissen. Andernfalls hättest du diese Gabe nicht
derart verschwenderisch angewendet.“
    Sie nickt. „Du hast vollkommen
Recht. Und ich wäre dir mehr als dankbar, wenn du es mir erklären würdest.“
    Er drückt sich von seinem Stab
ab, der durch eigentümliche kurze Linien gezeichnet ist, die an einer
senkrechten Grundlinie aufgereiht oder diese kreuzend ins Holz geschnitzt
wurden, und richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Ernst blickt er ihr
beinahe auf gleicher Augenhöhe ins Gesicht. „Man kann es nicht so einfach
erklären. Meine Schüler benötigen an die zwanzig Jahre, um es zu begreifen. Ich
fürchte, dein Leben ist zu kurz bemessen, um es dir verständlich machen zu
können.“
    Seine Worte machen ihr Angst.
„Wieso glaubst du, dass mein Leben nur von kurzer Dauer ist? Besitzt du die
Erleuchtung des Weißsagens“, fragt sie verunsichert und bemerkt, wie er stutzt.
Der Alte setzt eine spöttische Miene auf.
    „Ich muss deine Zukunft nicht
erst aus dem Flug eines Vogels oder den Eingeweiden eines Opfertieres ableiten.
Ich sehe auch so genug, denn ich habe scharfe Augen und einen klaren Verstand.
... So sehe ich, mit wem du dich umgibst. Deine Sprache ist die der Waffen.
Dein Glück beruht auf Gewalt und dem Unglück anderer.“
    Sie überdenkt seine Worte. „Es
war nicht immer so. Ich musste mich anpassen, um zu überleben.“
    Er schüttelt den Kopf. „Um zu
verstehen, müsstest du ausbrechen. Dein materialistisches Leben hinter dir
lassen, damit sich dein Geist frei entfalten kann ... Es ist ein friedliches
Wissen ohne Eigennutz. Doch kann es ebenso in die falschen Hände geraten und zu
Grunde richten. Ich werde dieses Wagnis nicht eingehen.“ Er kehrt ihr den
Rücken zu, um zu gehen.
    „Rian!“ Sie folgt ihm einen
Schritt nach.
    Er verharrt und wendet sich
halb zu ihr herum.
    „Du verkennst mich. Ich
versuche mich bereits in der Heilung mit Kräutern. Ich möchte das Leben
bewahren und nicht den Tod bringen.“
    Er kaut nachdenklich auf seiner
Unterlippe herum, während er sich ihr wieder ganz zuwendet. Ihr ist, als würde
er sie mit Blicken durchbohren. „Und dennoch wage ich zu prophezeien, dass du
letzteres bedenkenlos tun würdest, wenn du um die Manipulierung und Tötung mit
rein geistigen Kräften wüsstest. Das Morden ist dir bereits zu sehr in Fleisch
und Blut übergegangen. Du hast dadurch unheilvolle Kräfte, Hass und Wut, auf
dich geladen und wirst auch weiterhin mit solchen Kräften, die sich durch
andere gegen dich richten, leben müssen. Oder durch diese sterben. Denn Hass
und Wut rufen nur wieder ihresgleichen hervor.“
    Sie senkt mutlos die Hände. „Du
kennst mich nicht. Wenn ich tötete, dann geschah es insbesondere aus Notwehr,
um mein nacktes Leben zu retten.“ Nein, einmal geschah es auch aus Hass, wie
sie sich eingestehen muss, wenn sie an Mac Gennon denkt. „Ich kehrte
unmenschlicher zurück, weil ich unter Menschen war“, kommt ihr verzweifelt in
den Sinn, was ihn zum geringschätzigen Heben einer weißen Braue verleitet.
    „Du zitierst einen römischen
Gelehrten. Eine schlechte Entscheidung im Anbetracht meiner Einwände. Es gab
kaum ein kriegerischeres Volk.“
    „Sei mir gegenüber aufrichtig.
Du willst es mich nicht lehren, da ich keine aus deinem Volke, überdies nur
eine Frau bin“, hakt sie hartnäckig nach.
    Doch der Alte

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