Die rote Farbe des Schnees
Wohnturmes.
„Geh ihm nach.“
Sie blickt ins nachdenkliche
Gesicht ihres Vaters.
„Ich führe Brix in den Stall.“
Joan nickt. „Habt ihr geredet?“
„Ja“, betont er mit
durchdringendem Blick, worauf sie ihr Augenmerk betrübt auf seine Stiefel
richtet.
„Joan. Dir fällt Treue offenbar
ebenso schwer, wie mir“, lenkt er etwas versöhnlicher ein. „Es scheint uns im
temperamentvollen Blut zu liegen. Doch musst du lernen, es besser zu
verbergen.“
Sie schnappt entrüstet nach
Luft.
Raymond jedoch fährt unbeirrt
fort. „Malcom ist in dieser Hinsicht nicht sehr verständnisvoll. Es widerfuhr
ihm einfach schon zu oft. Und du weißt, was du ihm bedeutest. ... Das hat er
nicht verdient, Kind.“
„Es ist nicht so, wie ihr
denkt“, versucht sie, nachdrücklich zu erklären. Nervös zupft sie an ihren mit
kostbaren Edelsteinen besetzten, pelzgefütterten Handschuhen, einem unter
vielen großzügigen Geschenken Miriams und Amáls an ihre Hochzeitsgäste.
„Doch. Genau so ist es. Hör
auf, es mit Ausreden zu verstellen. Glaubst du sie gar am Ende selbst?“
Sie betrachtet ihn trotzig. „Es
war nur ein Kuss.“
Raymond lässt ein raues Lachen
vernehmen. „So beginnt es doch immer.“ Angesichts ihrer verstörten Miene
streicht er ihr tröstend über die Wange. „Du hast sein Vertrauen schon einmal
arg beansprucht, zerstöre es jetzt nicht. Unter seiner rauen Schale verbirgt er
einen überaus empfindlichen Kern.“
„Ich weiß.“ Sie nimmt seine
Hand, drückt sie gegen ihre Wange und küsst sie flüchtig.
„Du hast eine Schwäche für
diese Farwicks“, bemerkt er grinsend, so dass sie ihn empfindlich getroffen
anblitzt.
„Vater!“ Der vorwurfsvolle
Unterton in ihrer Stimme weicht einem mutlosen. „Wenn es doch so einfach wäre.“
Er lächelt. „Manchmal ist die
Einfachheit verwirrend.“
Sie schüttelt betrübt den Kopf.
„Scheinbar bin ich diesem Fluch gegenüber machtlos.“
Er starrt sie verdutzt an.
„Woher weißt du ...“, er stockt, um sie tröstend an sich zu ziehen. „Mein Kind,
vergiss den Fluch. Es liegt allein bei DIR, was du aus deiner Ehe machst.“
Vertraulich küsst er ihre Stirn und schenkt ihr ein warmherziges Lächeln.
„Bisher hast du doch alles geschafft, was du dir vornahmst. Ich bin
zuversichtlich, dass alles zwischen euch beiden gut geht, wenn du es nur
wirklich willst.“ Er reckt das Kinn Richtung Wohnturm. „Und nun lauf ihm nach.“
Sie atmet durch. „Danke für
deine vertrauensvollen Worte, Vater.“
Er seufzt. „Du kannst immer zu
mir kommen, wenn dir etwas auf der Seele brennt. Doch dieses eine Mal wünschte
ich, ihr würdet mich herauslassen und es mit euch ausmachen.“
„Keine Sorge. Ich werde es
sogleich versuchen.“
Er nickt ihr aufmunternd zu,
womit sie sich entschlossen zum Wohnturm wendet.
Als sie die letzte Stufe zur Großen
Halle nimmt, kann sie Malcom gerade noch auf dem nächsten Absatz zum zweiten
Stock verschwinden sehen. Sie hastet ihm hinterher.
Atemlos holt sie ihn ein und
zieht ihn am Arm zurück. Er wendet sich fragender Miene zu ihr herum.
„Wir sollten endlich reden. ...
Bitte.“
Er scheint zu überlegen.
„Glaubst du, dass ich hören will, warum du dich mit ihm einließt? Es ändert
nichts daran, dass du es TATEST.“
„Was habe ich denn getan“,
fragt sie ihn beherrscht.
Er wendet
den Blick nicht ab von ihr. Dann atmet er durch. „Also gut“, lenkt er ein und
tritt zur Seite. „Nach dir.“
Sie stehen
nebeneinander auf dem Wehrturm und blicken über die im Mondlicht schimmernd
daliegende Schneefläche des Sees. Sie hat ihm alles über Ulman erzählt. Wie
lange sie ihn bereits kennt und welch schicksalhafte Gefühle sie verbindet.
Malcom schweigt gekränkt.
„Ich halte zu dir, Malcom. Es
war nur ein Kuss.“
Er schüttelt den Kopf. „Es war
nicht nur ein Kuss“, widerspricht er resigniert, wobei er sie von der Seite
betrachtet. „Es ist verdammt verletzend. ... Du liebst wieder einmal einen
anderen, mal wieder meinen Bruder. Und du liebst ihn bereits länger, als mich.
... Ich wusste, ich heirate eine begehrenswert schöne Frau. Doch bin ich nicht
gewillt, ständig deine Liebe mit einem anderen zu teilen, Joan.“ Er fährt
wütend mit dem Fuß durch den Schnee, so dass es stiebt.
„Du übertreibst maßlos, wie ich
finde“, antwortet sie.
„Ah ja? Womit denn?“
„Du verbiegst die Wahrheit. ...
Amál hatte eine Chance, weil wir beide nicht in der Lage waren, über unsere
Probleme zu reden,
Weitere Kostenlose Bücher