Die rote Farbe des Schnees
nanntest.“
Amál zuckt betont gleichgültig
die Schultern und kommt grimmig vor Joan.
Sie atmet bei seinem Anblick
verdrießlich durch und wechselt mit Blanche zweifelnde Blicke.
Awin indes reitet auf Ignis
über den weiten Hof zu den Ställen hinüber.
„Nun kommt endlich“, gemahnt
sie Blanche. Sie folgen ihr in den Wohnturm hinein. Als sie die Treppe zum
zweiten Stock emporsteigen, spürt Joan Blanches fragenden Blick. Da erst
gewahrt sie die gespannte Miene ihrer Freundin und lächelt.
„Es ist alles zu unserer
Zufriedenheit gelaufen. Ray wurde begnadigt. Sein verlorener Besitz ging an ihn
zurück.“
Blanche verhält flüchtig ihre
Schritte, um überwältigt beide Hände gegen die Wangen zu legen. Sie ist zu
keinem Wort fähig. Ihrem Gebaren ist jedoch ihre unendliche Erleichterung zu
entnehmen. Dann geleitet sie die beiden in den zweiten Stock zum Gemach der
Kinder und ihrer Amme Muriel. Als sie die Kemenate betreten, erhebt sich
Timothy vom Bett Julians und blickt ihnen erwartungsvoll entgegen.
Joan kommt neben ihn und
betrachtet das kleine blasse Gesicht auf dem Kissen.
„Endlich seid ihr zurück“,
bemerkt Timothy mit gedämpfter Stimme. Zur Begrüßung drückt er Joan einen
vertraulichen Kuss auf die Stirn. Mit Amál verfährt er ebenso.
Sie kniet sich neben Julian ans
Bett und berührt dessen Stirn. Diese ist kühl. Der Kleine öffnet die Augen. Sie
wirken sehr dunkel, seine Pupillen sind ungewöhnlich geweitet. Als ihm Joan
lächelnd die Wange streichelt, beginnt er jämmerlich zu weinen. Daraufhin setzt
sie sich zu ihm aufs Bett und redet beruhigend auf ihn ein. Sie bemerkt die
verschorften Narben an den dünnen Ärmchen, die auf unzählige Aderlässe
hinweisen. Als sie die Bettdecke zurückschlägt, sitzen ihm zu ihrer
Überraschung etwa ein Dutzend Blutegel von der Größe ihres kleinen Fingers auf
dem kleinen, ausgezehrten Oberkörper. Von dieser Methode hörte sie noch nie. Überdies
wurde er nach den Ritzungen und Blutergüssen auf seinem Rücken blutig
geschröpft.
„Er hat Angst vor mir. Er
glaubt, ich will ihm wehtun“, bemerkt sie zu Timothy. Dann zieht sie Julian
kurzerhand auf ihre Oberschenkel. Er strampelt und ist außer sich.
„Ich halte nicht viel vom
Ausleiten des Blutes und der damit schlechten Säfte, um zu heilen. Allzu oft
wird es viel zu voreilig oder aus Ratlosigkeit vorgenommen, um überhaupt etwas
zu tun. Oft bewirkt es daher absolut nichts oder schadet gar, als dass es einen
Nutzen bringt. Der Kleine braucht sein Blut, um gegen etwas anzukämpfen, das
wir nicht kennen. Die unmäßigen Aderlässe haben ihn zusätzlich geschwächt.“
Timothy ist bestürzt. „Ich habe
extra einen Medicus von gutem Ruf für Julian kommen lassen. ... Dieser
verdammte Quacksalber!“
Amál hält sich im Hintergrund,
doch bemerkt sie seine Anteilnahme. Sie atmet durch und drückt Julian
beruhigend an sich. Dieser ist jedoch untröstlich. „Ich fürchte, dir gleich
wehtun zu müssen“, murmelt sie wie zur Entschuldigung.
„Was hast du vor“, fragt
Timothy voller Sorge.
„Ich muss ihm die Egel
abnehmen, damit er nicht noch mehr Blut verliert“, erwidert sie, während sie
Julian zurück auf ihre Beine legt. „Bringen wir es hinter uns“, seufzt sie.
„Halte seine Beine fest, ich nehme die Arme.
Timothy tut, wie ihm geheißen.
Julian brüllt aus schlimmer Erfahrung verzweifelt und aus Leibeskräften. Er hat
nicht mehr die Kraft, sich zu wehren. Joan gräbt die Fingernägel in den ersten
Egel, worauf sich dieser schmerzgeplagt etwas zusammen zieht, und zerrt an ihm.
Dabei versucht sie, sich Julians Brüllen nicht zu nahe kommen zu lassen. Als
sie den Egel abzieht, treten einige Blutströpfchen aus der Saugstelle und
vereinigen sich zu einem kleinen Rinnsal. Der Egelbiss wird erfahrungsgemäß
noch etwas bluten. Es sind keine Saugnäpfe vom Tier abgerissen, die zu
Entzündungen führen könnten. Eilig wirft sie es zu Boden, um sich dem nächsten
zuzuwenden.
„Warte“, ruft Amál, so dass sie
ihm fragend ins eigentümlich bleiche Gesicht blickt. Er ist neben sie getreten
und schüttelt entsetzt den Kopf.
„Kennst du keine schmerzlosere
Methode“, fragt er aufgewühlt, wobei er berührt auf Julian herabsieht, dessen
Körper vor Schluchzen bebt.
„Nein“, gesteht sie. „Ich weiß
nur, dass er keinen weiteren Tropfen Blut verlieren darf. Um seine gepeinigte
Seele können wir uns anschließend kümmern.“
Amál fährt sich aufgebracht
durch die Haare. „Das ist
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