Die Rote Spur Des Zorns
Großmutter. Clare war auf sich selbst angewiesen.
Sie tastete mit ihrem Fuß über den Boden, um dem Koffer auszuweichen, und suchte sich im Dunkeln ihren Weg zurück zur Tür. Ihr Puls schlug jetzt höher, und sie versuchte, sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen, während sie ein Zimmer weiterging.
Die Vorhänge dieses Zimmers waren zurückgezogen, aber die Fenster standen offen, sodass das Licht und die Partygeräusche von unten bis zu der hohen, gewinkelten Balkendecke heraufdrangen. Clare erkannte ein Himmelbett, das den Raum beherrschte, die Wandkommoden, zwei Türen, von denen die eine angelehnt war und in einen weiteren Schrank führte, die andere geschlossen war. Sie durchquerte den Raum, um diese zweite Tür aufzustoßen. Dahinter lag ein winziges Bad. Bevor sie daranging, in den Wandschrank hineinzugreifen, zog sie die Vorhänge zu. Dann tastete sie nach dem Lichtschalter. Als sie das Licht angemacht hatte, drückte sie schnell die Tür zu, bis nur noch ein Spaltbreit Helligkeit in den Raum fiel. In der Hoffnung, genug sehen zu können, um weiteren Stolperfallen auszuweichen, umrundete sie das Bett, zog die anderen Vorhänge zu, ging wieder zu dem Wandschrank und stieß die Tür weit auf.
Das Innere enthielt ein Vermögen in Form von italienischen Wollsachen und polierten Lederschuhen – so viel, um eine ganze Boutique damit auszustatten. Möglich, dass sich unter einem der Pulloverkartons, die säuberlich auf dem oberen Regal angeordnet waren, etwas verbarg, aber vorher lohnte sich vielleicht eher ein Blick in andere Verstecke. Clare kehrte in das Zimmer zurück.
Auf der Kommode zwischen Wandschrank und Bad standen ein antiker Spiegel, ein CD-Player aus gebürstetem Stahl, der so groß wie ihr alter Kofferschallplattenspieler war – der erste, den sie je hatte – und eine Reihe CDs, eingeklemmt zwischen bronzene Buchstützen. Beim Aufklappen eines flachen Lederetuis kamen Ohrringe, Armkettchen und Manschettenknöpfe zum Vorschein, funkelnd und glänzend, wie nur teurer Schmuck es tat. Aber sonst versteckte sich nichts in dem Allerlei. Entweder war Malcolm von Geburt an ein Ordnungsmensch, oder Peggy Landry beschäftigte ein Hausmädchen. Clare machte die beiden obersten Schubladen auf und kam zu dem Schluss, dass Malcolm selbst für Ordnung sorgte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine Haushaltshilfe zusammengerollte Socken und zusammengelegte Unterwäsche mit solcher Präzision einsortierte. Sie schob ihre Hände unter die Sachen und erforschte dann auf die gleiche Art die zwei tieferen Schubladen. Ihre Fingerspitzen tasteten zwischen seidiger Baumwolle und flaumweichem Kaschmir, aber sie fand nichts außer der Bestätigung, dass Malcolm Champagnergeschmack und Kaviarträume hatte, oder wie der Slogan hieß.
Sie drückte die Schubladen fest zu und widmete sich dem nächsten Untersuchungsobjekt. Was sie für eine weitere Kommode, zwischen den beiden Fenstern, gehalten hatte, erwies sich als kantiger Mahagoni-Schreibtisch. Sie zog den Stuhl mit seinen dünnen, gedrechselten Beinen darunter hervor und nahm Platz. Auf der Tischplatte lagen ein Handy, ein Würfelkalender und Reklamepost. Sie beugte sich zu dem Papierkorb aus Draht hinab und stellte fest, dass er leer war. Demnach glaubte Malcolm nicht an die Theorie aus »Der entwendete Brief«, dass man Dinge in Sichtweite verstecken solle. Clare öffnete die obere linke Schublade. Zweitnotizen. Drittnotizen. Sie sah sie kurz durch. Eine ganze Serie Mahnungen von einem Autoverleih, gipfelnd in einer amtlich wirkenden Rückforderung.
Die nächste Schublade enthielt mehrere dicke Taschenbücher. Flugzeuglektüre. Offenbar war Malcolm ein Clive-Cussler- und Danielle-Steele-Fan. Clare blätterte die Seiten durch, nur um sich zu vergewissern, aber es fiel nichts heraus als abgerissene Tickets für Flüge nach D. C., Chicago und Houston.
Die dritte Schublade war mit Telefonbüchern vollgestopft; auch zwischen ihren weißen und gelben Seiten verbarg sich nichts. Ärgerlich machte Clare die Schublade wieder zu und nahm sich die rechte Schreibtischhälfte vor, die einen Stoß unterschiedlichster Blätter enthielt – ein Beweis, dass Malcolm in Hotels gerne Briefpapier stahl –, aber kein Indiz für ein schwereres Vergehen. Die zweite Schublade war voll Krimskrams: Zettel, Streichholzheftchen und angebrochene Post-it-Blöcke – Dinge, die sich in Hosentaschen und Autos ansammelten, die man aber noch nicht wegwerfen wollte.
Die letzte Schublade
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