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Die Rote Spur Des Zorns

Die Rote Spur Des Zorns

Titel: Die Rote Spur Des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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erklärte Ray mit lauter Stimme.
    »Na, fabel– autsch!«
    »Sorry«, rief Waxman. »War ein Stein. So, da hätten wir’s!« Der Wald öffnete sich erneut, und Waxman hielt an. Ray sprang aus dem Wagen und klappte seinen Sitz nach vorne, dann reichte er Clare die Hand.
    Clare fühlte plötzlich eine innere Verwandtschaft mit den luftkranken Flugpassagieren, die sie im Lauf der Jahre erlebt hatte. Sie mussten genauso dankbar sein, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, wie sie. Clare atmete tief durch.
    Der Geruch von Tannennadeln, warmem Asphalt und Öl erfüllte die Luft. »Liebe Zeit«, sagte sie. »Ich hatte so eine kleine Landestelle erwartet, aber die hier ist ja … richtig professionell.«
    Die planierte rechteckige Fläche war so groß wie ein Grundstück für ein Haus und mit vier an Pfählen befestigten Scheinwerfern ausgestattet, einen in jeder Ecke, für Nachtlandungen. Etwas abseits, neben einem Fertigbauschuppen, in dem vermutlich Werkzeug, Kompressoren und Wartungszubehör lagerten, befand sich ein Treibstofftank. Im Mittelpunkt aber lag ein quadratisches Stück Asphalt, bemalt mit Landemarkierungen, die weiß in der Sonne strahlten, und darauf thronte –
    »Der Hubschrauber, da ist er«, sagte Ray. »Sind ja eh alle gleich, wenn Sie mich fragen.«
    »Das ist ein Bell vier-siebenundzwanzig.« Clare bewegte sich langsam an den Rändern des Landeplatzes entlang, um die Maschine von allen Seiten zu bewundern. »Ein echter Klassiker. Sehr vielseitig. Es gibt Dutzende von Sonderausstattungen dafür. Dieser hier zum Beispiel hat eine Ladeluke und einen Ladebaum.« Die Luke war geschlossen, aber an dem Ladebaum hing immer noch ein Netz, das sich auf dem Asphalt ausbreitete wie die eingeholte Takelage eines längst verwaisten Schiffs. Schon beim Anblick des Hubschraubers sehnte sich Clare hinauf in die Wolken.
    Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Waxman und Ray Blicke wechselten. Der junge Wissenschaftler zog seine Baseballmütze tiefer in die Stirn. »Sie sind wohl ’n großer, äh, Hubschrauberfan?«
    »In der Army war ich Pilotin«, antwortete sie. »Und unsere Familie besitzt eine kleine Flugzeugfabrik.« Sie duckte sich unter dem Heck hindurch, um in das Kabinenfenster zu spähen. Es gab zwei bequeme Plätze, mit dem Rücken zum Cockpit und durch eine halbhohe Zwischenwand davon abgetrennt. Der Frachtraum war mit einem Fangnetz gesichert, um prominente Fluggäste vor der Ladung zu schützen, falls sie ins Rutschen geriet. Clare trat noch einen Schritt näher, warf einen Blick ins Cockpit und legte ihre Hand auf den Griff der Pilotentür. Er ließ sich bewegen – die Tür war nicht abgesperrt! Clare zischte aufgeregt. Sie drückte den Griff nach unten und zog daran.
    »Hey, Reverend!«, protestierte Ray, aber zu spät: Schon hatte sie sich auf den Sitz gehangelt.
    »Hi!«, sagte sie und ließ sich hineinfallen. Die Steuerkonsole war überschaubar und stromlinienförmig, viel einfacher als die wuchtigen, komplizierten Instrumententafeln, die sie gewohnt war. Mussten die neuen Digitalsysteme sein. Einen 427 hatte sie zwar noch nie geflogen, aber viele Stunden in seiner militärischen Version, dem Kiowa, verbracht.
    »Reverend! Sie sollten nicht da drin sein!«, ertönte von hinten Rays Stimme durch die offene Ladeluke.
    »Ich will mir nur mal das Cockpit ansehen«, erwiderte sie. »Bin gleich wieder draußen. Ehrenwort.«
    »Reverend!«
    Die Frontscheibe war riesig, viel breiter als die, die sie von der Armee kannte. Das musste eine fantastische Aussicht sein. Der Zündschlüssel steckte. Sie tippte ihn an und kontrollierte dann die Treibstoffanzeige. Halb voll.
    Die alte Sehnsucht stieg schmerzhaft in ihrer Brust auf. Sie wusste genau, was es für ein Gefühl wäre, diese Instrumente zum Leben zu erwecken und mit den Startvorbereitungen zu beginnen, wo jeder Handgriff ein Ritual war, genau wie in der Heiligen Messe. Sie konnte sich den Moment vorstellen, wenn das Dröhnen und Jaulen des Triebwerks abebbte, wenn Mikro und Kopfhörer sie mit einer Welt verknüpften, deren Zentrum die Maschine war – konnte sich die Erschütterungen vorstellen, die Metall und Knochen durchdrangen, die Bewegungen ihrer Hände und Augen über die Instrumente und dann, in der Sekunde des Abhebens, den Druck, der sie in ihren Sitz presste, während sie die Fesseln der Schwerkraft sprengte und in die Lüfte stieg.
    Ein Vers aus dem Matthäus-Evangelium kam ihr in den Sinn: »Leget ab, was ihr habt, und kommt mir nach.«

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