Die roten Blüten der Sehnsucht
wirklich dieses Zeug da kaufen?«
» Warum nicht?«
Sartorius warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sein Chef nicht in Hörweite war. Dann beugte er sich vor und flüsterte: » In Deutschland bereiten Apotheker Opium-Lösungen nur auf ärztliche Anweisung zu. Hier verkaufen sie es wie Limonade. Bitte, lassen Sie lieber die Finger davon.«
» Ist es wirklich so gefährlich?« Dorothea dachte an das Zimmermädchen, dessen jüngere Geschwister es regelmäßig bekamen. Und wenn man die Menge der Fläschchen betrachtete, die zum Befüllen bereitstanden, mangelte es nicht an Nachfrage.
» Man stirbt nicht daran«, sagte er sehr ernst. » Aber es ist auch nicht schön, wenn man nicht mehr ohne sein kann. Wir haben Kundinnen, die holen sich jede Woche eine Flasche. Und wenn wir Lieferprobleme haben, werden sie richtig krank.«
Dorothea erschrak. » Behalten Sie es. Eigentlich wollte ich mit Ihnen wegen meiner Schwester sprechen.«
Sartorius blickte düster zu Boden. » Ich habe alles getan, um sie umzustimmen. Ich habe versucht, es ihr zu erklären, obwohl sie nicht das Geringste vom Ehrenkodex der Wissenschaft versteht. Sie hat mir den Brief ungeöffnet zurückbringen lassen. Sogar Blumen habe ich geschickt, obwohl sie derzeit furchtbar teuer sind und ich deswegen auf meine neuen Glaskolben verzichten musste. Aber es war alles vergeblich.« Er schlug mit der Faust so heftig auf die Tischplatte, dass die Glasbehälter gefährlich klirrten.
» Das war wirklich ein großes Opfer.« Sie unterdrückte die aufsteigende Heiterkeit. Sicher fand ihr Gegenüber das überhaupt nicht komisch. » Meinen Sie, Sie könnten sich dazu überwinden, es noch einmal zu versuchen?«
Sartorius sah auf. So etwas wie ein Hoffnungsschimmer glomm in seinen Augen. » Sie haben mit ihr gesprochen?« Auf einmal wirkte er überraschend jung und schüchtern. » Was hat sie gesagt? Oh, bitte, spannen Sie mich nicht so auf die Folter! Ich täte alles für sie– außer ein wissenschaftliches Experiment zu verfälschen.«
» Ich denke, wenn Sie noch einmal in der Carrington Street vorsprechen, werden Sie Lischen zugänglicher finden. Obwohl Sie feststellen werden, dass meine Schwester ihren eigenen Kopf hat.«
Sartorius strahlte vor Freude. » Ich weiß. Das schätze ich ja gerade so an ihr. Dass sie nicht eines jener Frauenzimmer ist, die zu allem Ja und Amen sagen. Wir haben schon ganz schön hitzige Diskussionen geführt.« Er packte Dorotheas behandschuhte Rechte und schüttelte sie frenetisch: » Danke. Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen kann, Mrs. Rathbone.«
» Ganz einfach: Indem Sie gut zu Lischen und meiner Mutter sind«, sagte Dorothea leise.
» Das ist doch selbstverständlich!« Er sah für einen Moment ein wenig traurig aus. » Hat Lischen Ihnen erzählt, dass ich aus Deutschland flüchten musste, um nicht als Revolutionär erschossen zu werden?« Dorothea nickte. » Ich vermisse meine Eltern und die Geborgenheit unserer weitläufigen Familie ganz schrecklich und würde mich glücklich schätzen, hier Menschen zu haben, zu denen ich gehören darf.«
» Dann holen Sie sich gleich morgen früh ein frisches Bukett und bitten meine Schwester um ihre Hand«, riet Dorothea praktisch. » Sie passen wunderbar zusammen: zwei Dickköpfe, wie sie im Buche stehen!«
10
Die Rückfahrt gestaltete sich weitaus angenehmer als die Hinfahrt. Die ersten herbstlichen Regenschauer waren über die ausgetrocknete Landschaft niedergegangen und hatten den Staub gebunden. Es war gerade ausreichend Feuchtigkeit, um die Luft klar und frisch zu halten, aber noch nicht genug, um den Erdboden aufzuweichen. Als sie durch Hahndorf fuhren, rochen sie den typischen Rauch der Kartoffelfeuer und sahen die riesigen Halden aus Rüben, die später mit Erde bedeckt würden, um als Wintervorrat zu dienen.
» Wie kommt ihr eigentlich damit zurecht, dass hier die natürlichen Jahreszeiten auf den Kopf gestellt sind?«, erkundigte sich Percy, während er befremdet dem Erntetreiben zusah. » Es ist Mai. Zu Hause blühen jetzt die Apfelbäume und Rosen. Die Saison in London ist beendet, alle ziehen sich auf ihre Ländereien zurück– und hier ist es genau umgekehrt.«
» Ach, nach ein paar Jahren gewöhnt man sich daran«, sagte Ian gleichmütig. » Selbst die Schafe lammen inzwischen zum großen Teil im Herbst, wenn genügend frisches Gras zur Verfügung steht.«
» Also, an Weihnachten im Hochsommer–
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