Die roten Blüten der Sehnsucht
herrührten.
» Ich grüße euch«, sagte die Alte, kniete zum Zeichen des Respekts nieder und verbeugte sich mühsam fast bis zum Boden. Das Mädchen tat es ihr sofort nach.
» Bitte, steh auf.« Ian trat auf die alte Frau zu und reichte ihr die Hand, um ihr behilflich zu sein. » Erklär mir lieber, was ein weißes Kind bei dir zu suchen hat. Sie ist kein Mischling, das sieht man auf den ersten Blick. Ist sie ein Ausreißer?«
Dorothea fiel auf, dass das Mädchen plötzlich verärgert wirkte. Sie hatte jedes Wort verstanden. » Nein, das bin ich nicht«, platzte sie heraus. » Ich habe schon immer bei meiner Mutter gelebt.«
Ian schwieg angesichts dieser offensichtlich falschen Behauptung und sah die angebliche Mutter nur auffordernd an. Die zog ihren Opossumfellmantel fester um sich. » Sie war noch zu klein. Sie kann sich an ihre richtige Mutter nicht mehr erinnern«, sagte die alte Aborigine entschuldigend. » Es ist lange her, dass sie ein weißes Kind war.«
» Wie lange?«, fragte Ian scharf.
» Zu lange.« Die Alte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Dorothea erinnerte sich an das Gerücht, dass sie bei den Aborigines als Hexe verschrien war. Kein Wunder, ein solches Selbstbewusstsein war bei einer Eingeborenenfrau extrem selten. Lebte sie nicht auch noch ohne Mann? Wenn dazu die Angst vor Zauberei kam, würde niemand wagen, eine Hand gegen sie zu erheben. » Jetzt muss sie zu ihrem eigenen Volk zurück.«
» Vielleicht fängst du besser ganz von vorn an«, schlug Ian vor, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. » Es kommt mir ziemlich kompliziert vor. Wo hast du eigentlich so gut unsere Sprache zu sprechen gelernt?«
Die Alte nickte. » In der Missionsschule in Encounter Bay. Dort bekam ich auch meinen englischen Namen: Sara. Meine Familie starb, als ich noch klein war, und so blieb ich dort, bis ich alt genug war, für mich selbst zu sorgen. Einige Zeit war ich Dienstmädchen auf einem Anwesen bei Goolwa, aber sie schickten mich weg, als dem Besitzer dort eine andere lubra besser gefiel. Von da an lebte ich allein auf dem Coorong.«
Dorothea zuckte zusammen. Sara sprach das Wort ein wenig anders aus, gutturaler. Aber trotz der kehligen Aussprache erkannte sie den Namen jener Landbrücke, auf der vor vielen Jahren das berüchtigte Maria-Massaker stattgefunden hatte. Ein großer Teil der Vermissten war tot aufgefunden worden, ein anderer war verschwunden und würde es, außer für die wenigen Mitwisser jener grausigen Entdeckung, für alle anderen auch bleiben. Das Bild der aufgereihten Köpfe der Schiffsmannschaft in der Höhle des Skelettmannes würde sie nie in ihrem Leben vergessen!
Verschwunden war auch das jüngste Kind einer der Familien. Alle übrigen Mitglieder waren aufgefunden und christlich bestattet worden– bis auf die kleine Tochter.
» Wenn dich keine Gruppe deiner Leute aufnehmen wollte… Wieso bist du nicht zurück zur Missionsstation?« Ian schüttelte verständnislos den Kopf. » Sie hätten dich sicher nicht weggeschickt.«
» Nein, das hätten sie nicht«, gab Sara ihm recht. » Aber ich hatte genug vom Leben der Weißen. Meine Ahnen sagten mir, es sei an der Zeit, wieder die Erde unter meinen Fußsohlen zu spüren und den Wind auf meiner Haut. Ich hatte fast vergessen, wie murnong schmeckte. Dabei hatte ich als Kind nahezu täglich gedämpfte murnong -Wurzeln gegessen.«
» Aber ganz allein draußen in der Wildnis?« Dorothea versuchte vergeblich, es sich vorzustellen. » Wie hast du das nur ausgehalten?«
» Ich war endlich frei«, sagte Sara schlicht. » Es machte mich glücklich, tagsüber durch den Busch zu streifen und nachts die Sterne über mir zu sehen. Ich musste nicht mehr essen, wenn ich keinen Hunger hatte, und schlafen, wenn ich nicht müde war.«
» Hast du keinen Ärger mit den Jägern dort bekommen?« Die Ngarrindjeri vom Coorong und rund um den Lake Albert galten als äußerst gefährliche Nachbarn.
» Wenn man allein ist, ist es leicht, sich unsichtbar zu machen. Außerdem dauerte es nicht lange, und sie gingen mir aus dem Weg.« Sara lächelte verschmitzt.
Dorothea hätte gerne erfahren, wie sie das angestellt hatte, aber Ian schienen solche Details herzlich egal zu sein. » Schön, du hast es also geschafft, allein zu überleben«, sagte er und musterte sie wie ein Pferd, bei dem man noch überlegt, was man dafür zu zahlen bereit ist. » Ich bin kein Missionar, und deshalb ist es mir egal, ob du wieder nach dem Glauben
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