Die roten Blüten der Sehnsucht
gelegen hatte. Wo war sie?
Verwundert sah sie sich um. Es war keine große Familienbibel gewesen, sondern ein eher handliches, in Leder gebundenes Buch. An einer Seite war der Einband lose, und dort hatte sie, wie sie im Scherz einmal bemerkt hatte, » alles Wichtige in meinem Leben« verborgen. Sie würde sicher damit begraben werden wollen. War sie vielleicht heruntergefallen? Dorothea kniete sich nieder, um unter das Bett blicken zu können. Aber außer dem Nachttopf war dort nichts zu sehen als eine Spinne, die eilig in die andere Richtung krabbelte.
» Was suchst du? Etwas Bestimmtes?« Ian hatte sich ebenfalls niedergebeugt und folgte ihrem Blick.
» Ihre Bibel. Ich verstehe das nicht«, murmelte Dorothea. » Sie lag immer auf dem Nachttisch. Direkt neben der Glocke. Aber jetzt sehe ich sie nirgends.«
» Sie wird sich schon wieder einfinden.« Ian maß dem Verschwinden des Buches offensichtlich keine größere Bedeutung bei. » Sagst du Mrs. Perkins Bescheid? Ich gehe dann mit John das Grab ausheben. Nur gut, dass es nicht mehr so schüttet.«
Dorothea blieb allein mit der Toten. Sie schien sie vorwurfsvoll anzustarren. Mit zitternden Fingern versuchte Dorothea, ihr die Augen zu schließen. Kalt, unheimlich kalt und steif fühlten die Lider sich an. Sie zuckte zurück.
» Das ist die Leichenstarre«, sagte eine ruhige Stimme von der Tür her. » Ich werde heiße Kompressen auflegen, die machen sie wieder beweglich.«
Dorothea trat erleichtert zur Seite. Mrs. Perkins sah mit unleserlichem Gesichtsausdruck auf die Tote. Trotz ihrer äußerlichen Ungerührtheit kannte Dorothea sie gut genug, um zu spüren, wie erschüttert sie war. Natürlich hätte die Köchin sich das unter keinen Umständen anmerken lassen, aber ihre verkrampften Hände, an denen die Knöchel weiß hervortraten, die blassen Wangen und die zusammengepressten Lippen verrieten sie.
» Soll ich Ihnen helfen?« In dem Augenblick, in dem sie es aussprach, hätte Dorothea das Angebot gerne wieder zurückgenommen. Der kalte, steife Körper stieß sie ab. Es war nicht der direkte, unverfälschte Ekel, den man beim Anblick von Gewürm empfand. Die Scheu davor, ihn zu berühren, ging einher mit einer Art Ehrfurcht, wie man sie sonst nur sakralen Gegenständen entgegenbrachte. War die Seele wirklich schon zum Himmel aufgestiegen? Oder war doch noch ein Rest von ihr im Körper verblieben?
Dorothea konnte plötzlich die Angst der Eingeborenen vor den Toten nachempfinden. Die Form war die altvertraute. Aber die Form war leer. In ihr fehlte das, was den Menschen im Leben ausgemacht hatte. Und das war ausgesprochen unheimlich.
» Gehen Sie nur, Ma’am«, sagte die Köchin zu ihrer immensen Erleichterung. » Mir macht es nichts aus, und ich glaube, Lady Arabella wäre es lieber, wenn wir unter uns blieben. Zwei alte Frauen.« Die beiläufige Geste, mit der sie die Bettdecke glatt strich, hatte etwas Zärtliches. » Was soll sie im Grab tragen? Ihr Lieblingskleid?«
» Das wäre schön. Und wenn Sie die Bibel finden, die würde sie sicher gerne bei sich behalten.«
» Lag sie nicht auf dem Nachttisch?« Mrs. Perkins sah Dorothea erstaunt an.
» Nein, sie scheint verschwunden. Vielleicht hat sie sie irgendwo hingelegt und vergessen«, sagte Dorothea. Sicher hatte Ian recht, und die fehlende Bibel hatte nicht das Geringste zu besagen. Es war nur erstaunlich, dass die Köchin auf einmal irgendwie beunruhigt schien. Ihre Gesichtsmuskeln arbeiteten heftig, als ringe sie mit sich.
» Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Mrs. Perkins?«
Die Köchin schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. » Nein, nein. Wenn Sie uns dann allein lassen würden, Ma’am…?«
Das tat Dorothea nur zu gerne. Sobald sie sich angekleidet hatte, ging sie ins Kinderzimmer. Trixies Augen waren zwar immer noch rot gerändert, aber sie machte einen gefassten Eindruck. » Ich habe es den Kindern noch nicht gesagt«, flüsterte sie Dorothea zu, während sie sie ans Fenster zog. » Sollen sie denn mit zu der Beerdigung?«
Dorothea zögerte.
» Ist Lady Arabella tot?« Robert hatte wirklich Ohren wie ein Luchs. Wie aus dem Boden gewachsen, stand er plötzlich neben ihr und packte ihren Arm mit überraschender Kraft. » Sag schon, Mama: Ist es Lady Arabella?«
Bestürzt wandte sie sich ihm zu. » Woher weißt du es?«
Sein Gesicht erstarrte. Unwillkürlich wanderten seine Augen zu Vicky, die totenblass geworden war.
» Hast du es geträumt, Kind?«, fragte Dorothea besorgt.
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