Die roten Blüten der Sehnsucht
seiner Ansicht nach die Frauen deutlich mehr Tabus unterworfen wären. Allerdings variiert das dann wieder zwischen Müttern und Ehefrauen, die noch keine Kinder haben, und unverheirateten Mädchen.«
» Also eine Wissenschaft für sich, könnte man sagen«, stellte Percy fest. » Von Indianern heißt es, bei ihnen wären ebenfalls diverse Speiseverbote üblich. Interessant, dass es anscheinend überall auf der Welt verbreitet ist.«
» Wie kommt es, dass du so viel über Indianer weißt?«, erkundigte sich Dorothea. » Ich hatte dich schon länger danach fragen wollen.«
» Ich hatte vor, nach Amerika auszuwandern«, sagte Percy mit leicht verzerrtem Lächeln. » Aber Onkel Hugh war strikt dagegen und hat sich geweigert, mir das Geld für die Passage vorzustrecken.– Ich hätte es ihm natürlich zurückbezahlt, sobald ich zu Vermögen gekommen wäre«, fügte er eilig hinzu.
Dorothea verkniff sich die Frage, wie er das zu bewerkstelligen gedacht hätte. Amerika mochte das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sein, aber es konnte sich nicht so grundlegend von Australien unterscheiden. Und hier kam man nicht einfach so über Nacht zu einem Vermögen. Selbst Mr. Osmond, der Betreiber der Mine, hatte zuerst einmal investieren müssen. Auch wusste sie von keinem einzigen Viehbaron oder Schafzüchter, dem sein Reichtum in den Schoß gefallen wäre.
» Ich vermute stark, ihm schwebte dabei etwas im Zusammenhang mit Glücksspiel vor«, bemerkte Lady Chatwick, als sie ihr gegenüber Percys ursprüngliche Pläne erwähnte. » Sagte ich es nicht schon? Der junge Mann hat einen unglückseligen Hang zum Laster.«
Dorothea schmunzelte über den altmodischen Ausdruck, aber Lady Chatwick blieb todernst. » Lächle ruhig über mich, Liebes. Ich bin alt genug, um zu wissen, dass schlechtes Blut die unangenehme Eigenschaft hat, immer wieder in den Nachkommen durchzuschlagen. Ich halte jedenfalls Augen und Ohren offen.«
Lady Chatwicks Drohung oder Versprechen– je nachdem, wie man es auffassen mochte– geriet bei Dorothea bald in Vergessenheit. Hatte sie anfangs noch erwogen, es Ian zu erzählen, wurde es rasch von anderen Dingen verdrängt. Es gab wirklich Wichtigeres als die schrulligen Einbildungen der alten Dame, die zu viele Romane las.
Ian konnte endlich das Bett verlassen. Wenn er sich auch noch schwer auf Roberts alten Stock stützte, den Dorothea nicht übers Herz gebracht hatte wegzuwerfen, hinkte er doch entschlossen durch Haus und Hof. Die Regenzeit ging allmählich ihrem Ende entgegen. In einigen Wochen würden die weiten Flächen an den Ufern des Murray River wieder von zahllosen Blüten überzogen sein und frisches Gras für die Mütter der frisch geborenen Lämmer sprießen. Und Robert würde nach Adelaide ziehen, um dort das St. Peter’s College zu besuchen.
» Wenigstens ist er nicht so weit weg wie Miss Heather«, bemerkte Mrs. Perkins ein wenig betrübt. » Und er ist nicht mutterseelenallein unter fremden Menschen wie die arme Kleine. Hat es denn wirklich gleich Sydney sein müssen?«
» In Adelaide gibt es nun einmal keine Institute für junge Damen«, sagte Dorothea kurz. » Außerdem hat Heather sich sehr gut dort eingewöhnt. Im letzten Brief schrieb sie sogar, dass sie sich auf die Tanzstunden freut. Sie haben es doch auch gelesen.« Heathers seltene Briefe wurden wie Kostbarkeiten herumgereicht.
Mrs. Perkins antwortete nicht direkt darauf, sondern fragte nur: » Wird sie Weihnachten zu Besuch kommen? Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich sie noch erkennen würde.«
» Ich denke ja. Aber das ist noch einige Zeit hin.« Dorothea erinnerte sich plötzlich an das ungewöhnliche Palaver vor den Stallungen, das sie beim Lunch so irritiert hatte. » Ach, sagen Sie, Mrs. Perkins, worum ging es eigentlich bei dem Gespräch vorhin, als John sich so ereifert hat?«
» Nichts Besonderes.« Schon der Tonfall machte klar, dass Mrs. Perkins diese Frage nicht beantworten würde. Dorothea versuchte also gar nicht erst, sie umzustimmen, sondern überließ sie ihrer offensichtlichen schlechten Laune.
12
Trixies schrille Schreie rissen die Hausbewohner aus dem morgendlichen Dämmerschlaf. Dorothea konnte Ian gerade noch davon abhalten, im Adamskostüm auf den Flur zu stürzen. Sie selbst warf sich nur ein Umschlagtuch über das Nachthemd und rannte auf bloßen Füßen los. Die Schreie kamen aus Lady Chatwicks Zimmer. Als sie es betrat, stand das Kindermädchen wie zur Salzsäule erstarrt vor deren Bett. Das
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