Die roten Blüten der Sehnsucht
während seine Schwester Ian umschmeichelt.« Sie nahm ihr Lorgnon ab und massierte die Druckstellen auf ihrem Nasenrücken mit zwei Fingerspitzen. » Vielleicht ist es nur Einbildung, aber pass auf.«
» Worauf?« Dorothea musterte die alte Dame halb amüsiert, halb entrüstet. Meinte sie tatsächlich…?
» Du verstehst sehr wohl, was ich meine.« Die kurzsichtigen Augen schienen durch sie hindurchzublicken. » Bäumchen wechsle dich ist ein gefährliches Spiel. Ich würde es ungern miterleben, dass Ian und du… dass ihr euch entfremdet.«
» Sie lesen zu viele Schauergeschichten!« Dorothea wies auf den Stapel Mysteries of London, die neueste Leidenschaft Lady Chatwicks. » Wenn man sich immer nur mit schlechten Menschen beschäftigt, färbt das ab. Deswegen sehen Sie überall nur noch das Böse. Percy und Catriona sind Verwandte. Es ist doch kein Wunder, dass wir uns in ihrer Gesellschaft wohlfühlen. Da ist absolut nichts Anrüchiges dabei!«
» Man kann nicht so alt werden, wie ich es bin, Kindchen, ohne gewisse, unschöne Dinge über die Menschen zu lernen.« Die alte Dame hüstelte, klemmte das Lorgnon wieder an seinen Platz auf dem Nasenrücken und griff nach dem aufgeschlagenen Journal neben sich. » Ich hoffe bei Gott, dass ich mich irre«, hörte Dorothea sie zu sich selbst sagen, als sie innerlich zitternd vor Empörung über Lady Chatwicks Impertinenz das Zimmer verließ. Die alte Frau wurde langsam wunderlich. Etwas Ähnliches hatte Dr. Woodforde wohl gemeint, als er sie bei seinem letzten Besuch darauf hingewiesen hatte, dass seine Patientin » altersbedingte Eigenheiten« entwickle. Damals hatte sie es nur auf den Portweinkonsum bezogen.
Sie war so verärgert, dass sie sich bei Catriona Luft machen musste. Die lachte allerdings nur herzlich und meinte: » Soviel ich gehört habe, soll es in ihrer Jugendzeit ziemlich wild hergegangen sein. Vermutlich hat sie noch die losen Sitten von damals im Hinterkopf. Seit Victoria Königin von England ist, hat sich so einiges geändert. Auch was die Moral anbetrifft. Was mich daran erinnert, dass du in der Stadt unbedingt ein Schnürmieder tragen musst. Es ist ganz und gar bäurisch, ungeschnürt zu gehen. Außerdem sitzen dann die Kleider nicht richtig.«
Dorothea verzog das Gesicht. » Diese Dinger sind so schrecklich unbequem. Man kann sich in ihnen ja nicht einmal bücken.«
» Eine Dame bückt sich nicht.«
Um ein Haar wäre Dorothea in schallendes Gelächter ausgebrochen. Ein Blick in Catrionas schönes Gesicht zeigte ihr jedoch, dass diese es todernst meinte. Tatsächlich konnte sie sich nicht erinnern, ihre Cousine jemals dabei ertappt zu haben, dass diese sich nach etwas gebückt hätte. » Das ist doch albern.«
» Das ist nicht albern. Es ist korrektes Verhalten«, korrigierte Catriona sie. » Eine Londoner Dame der Gesellschaft würde eher sterben, als ungeschnürt aus dem Haus zu gehen.«
» Dann wäre ich schon lange tot! Aber ich bin ja auch keine Dame der Gesellschaft«, gab Dorothea leichthin zurück.
» Du wirst es aber sein, sobald Ian in seinem Stand bestätigt ist«, sagte Catriona nüchtern. » Willst du ihn blamieren, indem du dich wie eine Landpomeranze aufführst? Es mag hier in Australien lockerer zugehen als in England, aber ich möchte wetten, dass in Adelaide jede Dame, die etwas auf sich hält, inzwischen ein Schnürmieder trägt.«
Etwas Ähnliches hatte ihre Mutter auch erzählt. Da Dorothea sich inzwischen nur noch mäßig für Modefragen interessierte, hatte sie nicht weiter darauf geachtet. Natürlich liebte sie wie jede Frau immer noch schöne Roben. Aber die ursprüngliche Freude über die üppige Garderobe von Roberts erster Frau war einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen. Was hätte es denn für einen Sinn ergeben, sich für Lady Chatwick, Ian oder Mrs. Perkins aufzuputzen?
Und es hatte ja auch Vorteile, wenn niemand Anstoß daran nahm, dass sie an besonders heißen Tagen nur einen leicht gestärkten Unterrock trug und auf das Tragen von Handschuhen verzichtete. Dabei war Dorothea nur zu klar, dass sie sich eine solche Nachlässigkeit nur erlauben konnte, weil hier am Murray River andere Regeln galten als in Adelaide. Selbstverständlich würde sie in der Stadt nie ohne Hut und Handschuhe auf die Straße treten, in der vorgeschriebenen Anzahl von Unterröcken schwitzen und bei Besuchen kein Vormittagskleid tragen. Aber musste es gleich ein solches Ungetüm von Schnürmieder sein, wie Catriona sie
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