Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
in sich zusammen und er lächelte.
»Ach das«, sagte er gelassen. »Das ist nur ein Weta. Die sind harmlos.«
»Nur ein – Weta?«, wiederholte sie schwach. »Ich hätte mich fast zu Tode erschreckt!«
Er ging auf das Tier zu und streckte die Hand aus. Der Weta tastete mit zwei langen Fühlern Alexanders Finger ab und entschied dann, auf seine Hand zu klettern.
»Sieh her, er ist ein netter kleiner Gentleman.«
»Wenn du es sagst …«
Lina kam zögernd näher. Sie fühlte sich plötzlich viel besser. Wahrscheinlich war es nur die Erleichterung, dass der Weta harmlos war. Allerdings schlug ihr Herz immer noch ziemlich schnell.
»Dann war es wohl ziemlich albern von mir, so zu schreien«, murmelte sie betreten.
»Du konntest es ja nicht wissen.« Alexander hob seine Hand mit dem Weta etwas höher. Lina wich erneut ein Stück zurück. Ein Paar schwarzer Knopfaugen starrte sie an, die langen Fühler fuhren durch die Luft.
»Und wenn er mich nun anspringt?«
»Wetas können nicht springen«, erklärte Alexander. »Dazu sind sie viel zu schwer. Sieh her.« Mit seiner freien Hand griff er nach ihrer, und ehe sie sich’s versah, hatte er ihr das Tier auf den Handrücken gesetzt.
Sie zwang sich stillzuhalten und nicht zurückzuzucken, auch wenn das Gefühl der sechs Beine auf ihrer Haut sie schaudern ließ.
Alexander beobachtete sie. »Dafür, dass du eben noch geschrien hast, hältst du dich wirklich gut«, sagte er schließlich anerkennend.
Sie lächelte ein wenig gezwungen. »Kannst du es jetzt … trotzdem wieder nehmen?«
Er nickte, nahm ihr das Tier ab und ging nach draußen. Lina folgte ihm. Alexander setzte den Weta unter einen Busch und sah zu, wie er behäbig davonkrabbelte.
»Woher weißt du das?«, fragte Lina. »Dass sie nicht springen können, meine ich.«
»Durch Anschauen und Beobachten. Hat von Humboldt auch so gemacht.«
»Alexander von Humboldt, der große Naturforscher?«, fragte Lina. Es war ja nicht so, dass sie keine Bildung besaß.
Er nickte. »Mein Namensvetter. Nach ihm bin ich benannt.«
Lina lächelte scheu. Seit er Rieke und sie von den Einwandererunterkünften abgeholt hatte, hatten sie nicht mehr so viel miteinander gesprochen.
»Ich frage mich nur«, sagte er, »wie der Weta so plötzlich auf den Tisch kam.« Er schaute zum Hühnerstall, wo es noch immer so verdächtig ruhig war. »Das heißt, eigentlich frage ich mich das gar nicht. Kann es sein, dass Julius kurz davor bei dir war?«
»Was? Ach ja …«
»Kleine Geschwister können manchmal die reinste Plage sein.« Er erhob sich. »Julius!«, rief er. »Komm sofort hierher und entschuldige dich bei Lina!«
»Ach, lass ihn doch!« Lina hätte am liebsten gelacht vor lauter Übermut. Und allmählich war sie sich wirklich nicht mehr sicher, ob ihr Herz nur wegen des überstandenen Schreckens so heftig klopfte.
Kapitel 9
Anfang Dezember trug der Kirschbaum im Hof dicke rote Früchte, die Lina zusammen mit den Kindern erntete und zu Marmelade und Kuchen verarbeitete. In diesen Tagen sah sie wenig von Alexander, denn sein Vater und er waren in der Plantage damit beschäftigt, die Obstbäume auszudünnen und von altem Holz zu befreien.
Eines Abends wollte Lina sich nach dem Essen gerade erheben, um Brot, Käse und das Geschirr abzuräumen, als Mr Treban sie zurückhielt.
»Nein, Lina, bleib sitzen. Das hat noch Zeit.«
Er sah in die Runde. »Ich war heute in der Trafalgar Street«, sagte er schließlich. »Dort hat vor Kurzem ein Zahnarzt seine Praxis eröffnet, ein gewisser Dr. Stewart. Ich habe mit dem Mann gesprochen, er macht einen recht guten Eindruck. Und er hat mir einen Festpreis für die ganze Familie angeboten, wenn wir noch in dieser Woche zu ihm gehen.«
Lina sah, wie Julius seinem Bruder einen erschrockenen Blick zuwarf.
»Ich habe natürlich gleich einen Termin mit ihm ausgemacht«, fuhr Treban fort. »Für morgen, gleich nach dem Frühstück.«
Betretenes Schweigen folgte dieser Verkündung.
Zahnarzt. Das Wort weckte bei Lina ungute Erinnerungen an Dr. Kahles, damals in Klütz. Sofort war alles wieder da; der Leberwurstatem; das Gefühl von Hunger und Verzweiflung; die Zange. Wenn sie bedachte, dass sie ihm für ein paar Schilling fast ihre Vorderzähne verkauft hätte … Aber zumindest hatte Dr. Kahles sie für ihre schönen und gesunden Zähne gelobt.
»Aber, Vater …«, begann Julius. »Müssen wir wirklich dahin? Ich kann …«
»Hast du nicht erst gestern wieder über Zahnschmerzen
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