Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
sich?
Schweigend sahen sie zu, wie Rieke untersucht wurde. Auch hier war Dr. Stewart schnell fertig.
»Alles in bester Ordnung«, konstatierte er und Rieke schlüpfte vom Stuhl.
»Was habe ich dir gesagt!«, strahlte sie Julius an. Der grinste nur reichlich schief zurück.
»Julius, jetzt du«, forderte sein Vater ihn auch schon auf.
Der Junge schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber, erhob sich und warf seinem Bruder einen kläglichen Blick zu. Alexander nickte ihm zu, woraufhin Julius mit deutlichem Widerstreben zum Fenster ging und Platz nahm.
Dr. Stewart hatte schon wieder Spiegel und Haken zur Hand.
»Ich nehme an, du bist der junge Mann mit den Zahnschmerzen? Na, dann wollen wir doch mal sehen.«
Er schaute hier und dort, dann verharrte er an einer Stelle.
»Ah, da haben wir ja den Übeltäter«, murmelte er. Dann sagte er noch etwas, was Lina nicht verstand, griff nach einem weiteren Instrument und begann, den Zahn zu bearbeiten.
Julius’ schmaler Körper schien in dem Stuhl immer kleiner zu werden, während er langsam nach unten rutschte. Kurz darauf begann er zu wimmern. Lina fühlte mit dem leidenden Jungen mit. Auch Rieke neben ihr war ganz still geworden.
Schließlich schüttelte Dr. Stewart den Kopf, legte sein Instrument fort und griff nach einem anderen.
»Nein …!«, jammerte Julius laut auf, als er die Zange in der Hand des Zahnarztes sah. Auch Lina überlief ein Schauer.
»Offen lassen!«, sagte Dr. Stewart streng.
Der Zahn war offenbar nicht mehr zu retten. Bevor Julius wirklich verstand, was mit ihm passierte, hatte Dr. Stewart auch schon die Zange angesetzt. Julius stieß ein paar kurze, hohe Schreie aus, die Lina durch Mark und Bein gingen, dann war der Zahn draußen.
»Na also«, sagte Dr. Stewart. »War doch gar nicht so schlimm.« Er wickelte den Zahn in ein Stück Papier und drückte ihn Julius in die Hand. »So, und jetzt fort mit dir.«
Sofort steuerte Julius Lina an. Diese nahm ihn in den Arm und drückte den weinenden Jungen an sich, strich ihm über das Haar und lobte ihn für seine Tapferkeit. Nur am Rande bekam sie mit, dass sich nun Alexander erhob. Lina wollte ihm noch einen aufmunternden Blick zuwerfen, aber er sah sie gar nicht an.
Julius weinte noch immer, zwar leise, aber beständig. Mehr noch als sein Schluchzen machte Lina allerdings die Vorstellung zu schaffen, womöglich gleich Zeuge einer ähnlich schmerzhaften Behandlung bei Alexander zu werden. Sie war nicht sicher, ob sie so etwas noch einmal ertragen könnte.
»Mr Treban«, wandte sie sich leise an ihren Dienstherrn, »ich denke, ich gehe mit Rieke und Julius schon mal hinaus.«
Treban sah sie einen Augenblick an, als würde er über etwas nachdenken, dann nickte er lächelnd – ein ungewohnter Anblick in seinem oft so verdrießlichen Gesicht. »Gut, Lina, tu das. Bist ein gutes Mädchen«, setzte er noch hinterher.
Lina erhob sich und forderte ihre Schwester und Julius auf, ihr zu folgen. Beim Hinausgehen warf sie noch einmal einen Blick zurück, wo Dr. Stewart sich bereits über seinen nächsten Patienten beugte.
Sie sah Alexanders Hände, die die Armlehnen umfassten, und seinen dunkelblonden Haarschopf. Sah, wie breit seine Schultern über der hölzernen Lehne wirkten – ganz anders als bei Julius’ kindlicher Gestalt. Sah, wie er plötzlich zusammenzuckte, und hörte ihn hastig und schmerzerfüllt ausatmen. Ihr Herz zog sich zusammen.
»Na, was haben wir denn da?«, hörte sie Dr. Stewart gerade noch murmeln, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.
Mit weichen Knien folgte sie Rieke und Julius, die die Treppe hinunterstürmten, trat hinaus auf die sonnendurchglühte Straße. Direkt gegenüber dem Haus stand eine Bank; dorthin setzte sie sich. Julius hatte aufgehört zu weinen und präsentierte Rieke stolz seinen gezogenen Zahn und die Zahnlücke.
Lina fühlte sich noch immer leicht zittrig. Ihr Blick wanderte nach oben, zu dem Fenster im ersten Stock, hinter dem Alexander womöglich gerade leiden musste. Ein Teil von ihr wollte bei ihm sein und ein anderer ganz weit weg. Was war bloß los mit ihr? Bitte, betete sie stumm, lass es nicht so schlimm für ihn werden …
Das Fenster war geschlossen, es war nichts zu hören. Hinter dem Glas konnte sie eine Gestalt im dunklen Rock sehen – das war wahrscheinlich Dr. Stewart.
Rieke setzte sich neben Lina, dann kam Julius dazu. Auch er richtete einen prüfenden Blick nach oben.
»Wie lange braucht Alex denn noch?«, fragte
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