Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
Während sie Beileidsbekundungen entgegennahm, wurde sie in ihrem schwarzen Kleid nass bis auf die Haut. Alexander, der neben ihr stand, ging es sicher nicht anders, auch wenn sie vermied, ihn anzusehen. Rieke, die auf Linas anderer Seite stand, hatte die kleine Sophie auf dem Arm, die nicht so recht zu verstehen schien, was die vielen Leute hier taten. Julius schluchzte herzzerreißend.
Lina dagegen fühlte sich vollkommen leer. Sie konnte nicht einmal weinen. Mechanisch bedankte sie sich bei denen, die ihnen ihr Beileid aussprachen, nickte und schüttelte Hände. Genau wie Alexander neben ihr. Aber die ganze Zeit waren ihre Gedanken weit fort. Auch wenn sie Rudolf Treban nicht geliebt hatte, so war er doch ein anständiger Mann gewesen, der Rieke und ihr Arbeit und ein Zuhause gegeben hatte. Was nun aus ihnen beiden – nein, aus ihnen allen – werden sollte, das wusste nur Gott im Himmel.
Im Haus herrschte eine gedrückte Stimmung. Lina hatte alles weggeräumt, was noch an die Hochzeit erinnerte, all die bunten Tücher, Blumen und kleinen Geschenke. Stattdessen hatte sie den kleinen Spiegel in der Stube mit einem Tuch verhängt, wie es der Brauch gebot. Drei Tage hatte Rudolf in der Wohnstube aufgebahrt gelegen, während Nachbarn und Freunde die Totenwache gehalten hatten. Drei Tage, in denen geweihte Kerzen gebrannt hatten, die nicht gelöscht werden durften, solange der Tote im Haus war. Alexander hatte die Taschenuhr seines Vaters angehalten, wie es Brauch war. Der Tote hatte das Zeitliche verlassen, nun sollte seine Seele Ruhe finden. Alles Wasser im Haus war ausgegossen und alle Feuer gelöscht worden. Auch die Hausarbeit ruhte in dieser Zeit. Niemand im Haus durfte waschen, putzen, kochen oder Brot backen. Die Nachbarn brachten Essen.
Auch für den heutigen Trauerkaffee hatten die Nachbarn gesorgt: kalter Braten, Kuchen sowie belegte Brote. Lina nippte gerade an einem Becher mit bitterem Tee, als sie unter den Trauergästen die feiste Gestalt von Mr Seip sah, der ein paar Zettel in der Hand hielt und aufgeregt auf Alexander einredete. Alexander sah aus, als wäre er kurz davor, auf Seip loszugehen. Schnell trat sie dazu.
»Haben Sie eigentlich überhaupt kein Ehrgefühl?«, hörte sie Alexander gerade sagen. »Wir haben gerade meinen Vater beerdigt!«
»Was ist denn hier los?«, mischte sie sich ins Gespräch.
Alexander sah sie kaum an. »Das ist nicht deine Angelegenheit.«
»Das ist es sehr wohl«, widersprach Lina. »Auch wenn du es nicht akzeptierst: Ich bin jetzt auch ein Teil deiner Familie. Ich bin genauso dafür verantwortlich wie du.«
Seip musterte sie mit einem beifälligen Blick. »Da hat sie recht, die junge Witwe. Ach, übrigens: mein Beileid.«
»Danke«, murmelte sie und sah ihn abwartend an. Er reagierte nicht. »Mr Seip, was können wir für Sie tun?«, fragte sie schließlich.
»Ah, natürlich. Wie ich schon dem jungen Mann hier sagte«, holte er mit großer Geste aus, »hat die Familie Treban noch etliches an Schulden bei mir, schließlich habe ich ihnen die Überfahrt nach Neuseeland gezahlt.« Er holte ein Tuch aus der Tasche seiner geblümten Brokatweste und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Großzügig, wie ich bin, hatte ich dem verstorbenen Rudolf Treban – Gott hab ihn selig – noch einen letzten Aufschub gewährt, aber der ist nun um. Ich will mein Geld!«
»Müssen Sie ausgerechnet heute damit anfangen?«, fuhr Alexander ihn an. »Reicht es Ihnen nicht, dass Sie meinen Vater mit Ihrer Gier ins Grab gebracht haben?«
Lina konnte sehen, wie Seip puterrot anlief. »Das ist eine bodenlose Frechheit! Wie kannst du es wagen, mir so etwas …«
»Alex, Mr Seip, bitte«, ging Lina dazwischen. »Ich bin mir sicher, wir finden eine Lösung.«
Sie wusste auch nicht, woher sie plötzlich ihre Ruhe nahm. Vermutlich war sie einfach nur erschöpft. Und irgendjemand musste schließlich einen kühlen Kopf bewahren.
Seips Gesicht nahm wieder eine gesündere Färbung an. Er fuhr sich erneut mit dem Tuch über die Stirn und nickte wohlwollend. »Sehr schön, Karolina, das höre ich gern. Oder muss ich jetzt Mrs Treban sagen?«
»Das überlasse ich Ihnen.« Sie bemühte sich um eine feste Stimme, auch wenn ihr plötzlich ganz schwach zumute war. Aber sie musste es wissen. »Wie … wie viel schulden wir Ihnen denn?«
Seip zückte seine Papiere, fuhr mit dem Finger daran entlang und las schließlich vor: »Rudolf Treban, Obstbauer, und Johanna Treban, seine Ehefrau, je
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