Die Rückkehr der Königin - Roman
alle, die hier begraben sind, obwohl er weit weg in einem nicht gekennzeichneten Grab liegt.«
Sie konnte um Ansen weinen – die Wut, die Missgunst, die Vergeudung. Adamo sah, wie Tränen in ihre grauen Augen stiegen, blickte beiseite und beschäftigte sich mit seinem Pferd. Charo, der Ansen mehr ähnelte als er ahnte, hatte sich völlig von seinem Bruder losgesagt, als er die volle Wahrheit darüber erfuhr, was Ansen getan hatte. Er hatte ihn sogar aus seiner Erinnerung gestrichen. Charo hatte nie um seinen Bruder geweint. Er war der gleichen tiefen Leidenschaft fähig wie Ansen, bei Charo wurde sie lediglich durch eine gewisse Leichtigkeit gemildert. Tief in seinem Innern wusste Charo, wie nahe er den Abgründen war, die seinen Bruder verschlungen hatten. Vor langer Zeit schon hatte er beschlossen sich davon abzuwenden und klammerte sich stattdessen an seine Loyalität zu Kieran und Anghara mit der gleichen Inbrunst, mit der Ansen sich der Verfolgung seiner dunkleren Ziele gewidmet hatte. Adamo hingegen hatte still um seinen älteren Bruder geweint – nicht wegen seines Todes, sondern wegen seines Lebens. Er besaß Ansens Stärke, nicht aber seine Arroganz. Er begriff schnell das volle Ausmaß dessen, was zu Ansens Sturz geführt hatte. Im Gegensatz zu Charo hatte er dieses Wissen angenommen und nicht begraben. Ansen konnte Charo nichts anhaben, weil er für ihn aufgehört hatte zu existieren. Aber Cascins missratener Erbe konnte seinen Bruder über die Brücke der Empathie erreichen und erschüttern – und jetzt sah Adamo, dass Ansen die gleiche Macht über seine Cousine und Ziehschwester ausübte, die er einst unbedingt hatte vernichten wollen.
Adamo trieb sein Pferd vorwärts und streichelte dabei tröstend Angharas Arm. »Komm«, sagte er. »Man kann hier Frieden finden. Komm ins Haus.«
Sie ritten zum großen Herrenhaus, und Anghara wurde in ihr altes Zimmer geführt. Alle Erinnerungen an diesen Ort der Zuflucht waren gut und ließen sie ruhen und heilen. Sie schlief stundenlang, den Schlaf der Erschöpften und Unschuldigen. Als sie ausgeruht und munter aufwachte, merkte sie, dass sie nicht nur den Nachmittag sondern die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Das Licht, das durch ihr Fenster drang, war das perlenfarbene des Morgens. Irgendwo in den Bäumen hinter dem Haus zwitscherten Vögel. Sie lächelte, denn die Laute waren ihr vertraut, sie hatten sie jahrelang in diesem Zimmer geweckt. Plötzlich überflutete sie die Erinnerung an ihre morgendlichen Aufgaben, sodass sie beinahe ihr Haar zu Zöpfen geflochten und in Feors Unterrichtsraum gerannt wäre, um nicht zu spät zu kommen.
Die Anziehungskraft des Unterrichtsraums war übermächtig. Nachdem sie endlich aufgestanden und bereit für den Tag war, konnte Sie nicht länger widerstehen. Es war kaum verwunderlich, dass sie hörbar Luft holte, als sie die Tür öffnete und ein vertrautes Bild sie grüßte. Es sah aus, als würde dasselbe Feuer noch immer brennen. Die Sessel waren vor dem Kamin so aufgestellt, wie sie es waren, als Anghara mit Ansen und Kieran hier gesessen und die Schlachten ihres Vaters analysiert hatte, während sie insgeheim ihre Identität verbarg. Die Sessel waren besetzt, und Anghara zuckte zusammen, als einer knarzte und Kierans Gesicht erschien, um zur Tür zu schauen.
»Wird aber auch Zeit«, meinte er freundlich. »Wir wollten schon ohne dich anfangen.«
Sie brauchte nicht zu fragen, womit sie anfangen wollten – im Raum türmten sich Karten und Briefe auf, in einer Ecke – an diesem Ort des Lernens eigentlich sehr unangebracht – lehnten bloße Schwerter und drei lange Speere an der Wand. Die Männer in diesem Raum waren der Kriegsrat, der für morgen plante – für den Morgen, der Anghara nach Miranei führen sollte. So hatten sie es geschworen.
Dieses Zwischenspiel in Cascin, Zeit auszuruhen und Pläne zu schmieden, war der letzte Schritt einer langen Reise. Die drei Kinder, die in diesem Hause aufgewachsen waren, begannen Feors wahres Erbe zu schätzen, denn die Qualitäten und Fähigkeiten, die er im Stillen in ihnen gefördert hatte, zahlten sich jetzt bei der Planung zur Eroberung Miraneis aus. Es war hier, ebenso sehr wie anderswo, dass Kieran ein Anführer von Männern und Anghara unauffällig zu einer Königin geworden waren. Der kleine erlesene Kreis – Kieran, Anghara, Adamo, Rochen und zwei von Kierans Hauptleuten – saßen und planten, wobei ihnen klar war, dass jede Stunde, die verging, eine Stunde
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