Die Rückkehr der Königin - Roman
hinab.
Allein gelassen stützte Anghara sich auf eine Zinne und legte das Kinn in die gefalteten Hände. So starrte sie in die Ferne, in die Richtung, aus der sich Sif näherte.
»O Vater«, flüsterte sie und beschwor das gespenstische Bild des Roten Dynan vor ihrem geistigen Auge herauf. »Was hast du hier nur angerichtet ... Ich weiß, du hast dieses Land geliebt, aber du hast eine böse Saat für seine Zukunft gepflanzt. Nur einer von uns kann auf dem Thron unter dem Berge sitzen; Sif will nicht aufgeben, und ich – ich kann nicht, nicht jetzt, nicht angesichts des Glaubens und der Opfer, welche mir hier gebracht wurden. So ist es so weit gekommen – dein Blut kämpft gegen dein Blut. Und alles, was ich habe ... alles, was ich habe, sind die Worte eines Orakels. Ich habe nie seinen Tod gewollt. Aber welche Wahl habe ich, wenn er mich zwingt, zwischen seinem Tod und meinem Leben zu wählen?«
Das Orakel. Die ersten Worte Gul Khaimas am Meer. Es war etwas, das Anghara nicht vergessen konnte, und vieles aus der Prophezeiung war bereits eingetroffen. Alles, was Anghara betraf, war abgeschlossen, abgesehen von einigen unverständlichen Sätzen. Der Jäger wird erlegt von der Beute, die er hetzt . Aber wer war der Jäger, wer die Beute? Und was war mit den letzten beiden kryptischen Zeilen? Ein gebrochener Geist soll liegen geöffnet, um ein bitteres Geheimnis zu erkennen . Wessen gebrochener Geist und welches bittere Geheimnis? Alles neigte sich dem Abschluss zu, und das Zweite Gesicht war ihr verschlossen, die Zukunft düster und unklar.
Sie seufzte tief und fragte sich, ob Sif auch nur halb so viel an diesen Gedanken litt wie sie. Dann wandte sie sich ab, zurück zur Festung, wo ihre Freunde warteten.
Anghara konnte nicht wissen, dass Sif sich wieder einmal auf eine schlaflose Nacht vorbereitete, als die Armee an diesem Abend ihr Lager aufschlug. Es waren viel zu viele schlaflose Nächte gewesen. Angefangen hatten sie lange ehe er ganz entgegen seinem Instinkt die voreilige Entscheidung gefällt hatte, nach Kheldrin zu reiten, um die Beute zurückzuholen, die man aus seiner eigenen Festung entführt hatte, während er eine sinnlose Verfolgungsjagd anführte, um diejenigen zu bestrafen, die das Haus seiner Mutter angegriffen hatten. Immer wieder hatte er die Ereignisse analysiert. Ja, dieser Überfall war sein erster Fehler gewesen – dass er dem heißen Rachedurst nachgegeben hatte, diesem brennenden Wunsch, den Sprössling Rashins zu finden und ihm eine Lektion zu erteilen, die dieser nie vergessen würde. Selbstverständlich war Favrin, als Sif endlich eintraf, längst verschwunden, und Sif musste sich mit Raubzügen in den Bergen zufrieden geben. Sie hatten eine kleine Gruppe Männer gefunden, die so dumm waren, in seine Klauen zu fallen – aber es war ein selten sinnloses Unterfangen gewesen. Sein Rachedurst hatte an Biss verloren, als er genügend abgekühlt war, um darüber nachzudenken.
Danach war er zurück nach Miranei geritten, nur um bei seiner Rückkehr Chaos vorzufinden – sein Haushofmeister und seine Königin tot, sein Erbe verloren, und seine Gefangene aus dem Kerker geflohen. Obendrein war ihre Identität bekannt geworden. Wieder überkam ihn weißglühende Wut. Wieder verfolgte er mit seiner Armee die Gefangene mit ihren Begleitern. Beinahe hatte er sie, doch im letzten Moment entkamen sie, als sie den Fluss Hal erreichten und im Land dahinter verschwanden. Sif stattete den nächsten Dörfern grausame Besuche ab und durchwühlte alles auf der Suche nach seiner Beute. Er fand sie nicht und ließ nur rauchende Ruinen mit verstört dreinschauenden Bewohnern zurück.
Kaum nach Miranei zurückgekehrt, ließ er die entflohene Gefangene zur Betrügerin erklären und ging zur Gruft, wo der Rote Dynan und angeblich seine gesamte Familie bestattet waren, um diese öffentlich zu betrauern und zu ehren. Danach ließ man ihm keine Wahl mehr – nie würde er den Morgen vergessen, an dem man ihm meldete, dass Angharas Grab aufgebrochen worden war und jeder, der wollte, sehen konnte, dass es leer war.
Die Staatsbegräbnisse, die er für Fodrun und Senena abhalten ließ, wurden zu einem grimmigen Schauspiel, als Sif gegen das schwer fassbare aber hartnäckige Gerücht kämpfen musste, dass die echte Anghara sehr lebendig sei. Über die Tode von Fodrun und Senena wurde geflüstert, auch über den Verlust des Kindes, dass alles eine Strafe für Sif sei, weil er den Thron gestohlen habe. Viele erinnerten
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