Die Rückkehr der Königin - Roman
überquert«, beharrte Kieran.
»Stimmt. Aber denk nach – viele haben es versucht, und es ist ihnen nicht gelungen, sehr viele; und diejenigen, denen es gelang, ist es fast immer sehr übel ergangen. In Kheldrin gibt es Leute, welche allein die Anwesenheit von fram’man’en als Sakrileg betrachten, und die bereit sind, zur Verteidigung dieser Überzeugung tätig zu werden. Obwohl es einige wenige in unserem Volk gibt, die über diese Berge gewandert und zurückgekommen sind, ziehen sie es vor, nicht darüber zu sprechen, und doch sind sie Kinder der Götter.« Ihre dünnen Hände schlossen sich über dem schwarzen Dolch und verbargen ihn in einer Falte der Decke und unter den vielen silbernen Armreifen vor Kierans Augen. Erst jetzt war er wieder er selbst. Er blinzelte und schaute dann hinab auf Anghara.
»Mach dir keine Sorgen mehr um sie«, beruhigte ihn ai’Jihaar. Mit ihrer unheimlichen Fähigkeit hatte sie wieder seine Gedanken gelesen. »Alles, was getan werden kann, tue ich. In einem hatte sie Recht – es gibt keinen anderen Ort, an dem ihre Heilung beginnen kann. Aber ob wir unsere Aufgabe erfüllen können, müssen wir abwarten. Vielleicht hat ihr Bruder ihr weitaus Schlimmeres angetan, als sie zu töten.«
»Kannst du sie heilen?«, fragte Kieran heiser.
»Sie wurde schon einmal geheilt, ohne zu wissen wie oder warum«, antwortete ai’Jihaar leise. Ihre Miene war nachdenklich, in sich gekehrt. Sie fand eine alte Erinnerung und betrachtete sie im Licht. »Mehr als das – sie hat den Tod persönlich überwunden. Für so jemanden ... werden wir alles wagen.«
Schweigend verneigte sich Kieran vor ihr und verließ sie.
Später wusste er nicht mehr, ob es ein Traum gewesen war oder Wirklichkeit; aber er erinnerte sich daran, wie er draußen in der dunklen, mondlosen Nacht ai’Jihaar beim Teich neben ihrem Zelt stehen sah. Aber das war nicht die ai’Jihaar des vergangenen Tages – nicht die alte Frau, von Krankheit geschwächt, auch nicht die herrische an’sen’thar oder die liebevolle Lehrerin, nicht die scherzende Tante, die ihren zögernden Neffen zu seinem Verlobungsfest schickte. Dort stand ein Geschöpf der Macht, gehüllt in eine weiße Feuersäule, die Arme hinausgestreckt zum dunklen Himmel voller riesiger Wüstensterne. Gib mir die Kraft! , schien sie zu beten. Was auch immer ihr Handel mit dir gewesen sein mag, Sa’id al’Khur, gewiss hat sie mich dafür aus deinen Klauen befreit – was immer ihr Handel gewesen sein mag, ich werde ihn erfüllen. Aber gib mir die Kraft! Vor langer Zeit bat sie um mein Leben. Jetzt bitte ich um ihres .
Der Handel, den wir geschlossen haben, ist beinahe erfüllt , an’sen’thar , schien eine körperlose Stimme vom Himmel zu antworten. Sie hat es vergessen, wie ich es ihr befohlen habe; eines Tages wird sie sich an alles erinnern. Und wenn sie das tut ... ist ihr Leben nicht länger in meinen Händen.
9
Eigentlich verhieß diese Begegnung mit ai’Jihaar Kieran nur wenig Hoffnung, aber er schlief ungestört den Schlaf der Unschuldigen und Vertrauenden in der Zeltecke, die man ihm zugewiesen hatte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war das Mittagessen näher als das Frühstück. Bald erinnerte Kieran sein Magen daran, dass seit dem Abendessen gestern bereits Stunden vergangen waren. Er hatte einen Hunger wie ein Wolf.
Außerdem war er allein. Er wusste fast immer, wenn er die Luft mit jemandem teilte. Als er sich präsentabel gemacht hatte und aus seinem Abteil ins Zelt schaute, war er nicht überrascht, dass es leer war.
Anghara ... Was haben sie mit Anghara gemacht ...
Gerade als ihn sein Vertrauen verließ, und alle Befürchtungen sich wie wartende Geier auf seinen Schultern niederließen, schlug Anghara die Zeltklappe zurück und kam herein. Ihre Wangen waren rosig, ihre Augen strahlten.
»Na, endlich bist du wach! Ich wollte mich gerade über ai’Jihaars Verbot hinwegsetzen und dich wecken. Der Tag ist schon halb vergangen.«
»Du siehst gut aus«, sagte Kieran und ließ über hundert Dinge, die er ihr hätte sagen wollen, unausgesprochen. Sie waren alle in seinem Schweigen enthalten, hätte Anghara zwischen den Worten lesen wollen oder können.
Doch sie zog es vor, das Offensichtliche nicht zu beachten. »Ich fühle mich viel besser«, meinte sie. »Allerdings sagt ai’Jihaar, dass ich noch keineswegs geheilt bin.« Es gelang ihr, das scherzhaft vorzubringen. Kieran wusste nicht, ob er ai’Jihaar danken oder sie schelten sollte,
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