Die Rueckkehr der Phaetonen
Traurigkeit stahl sich dabei langsam in Wolgins Herz, doch er gab sich ihr nicht hin. Auch heute, als er wieder den aufsteigenden Kummer spürte, wand er sich vom Meer ab und öffnete das Buch.
Es war die Technikgeschichte, die er las. Das gut geschriebene Buch war für Kinder, und Wolgin, der nicht einmal mit der Technik seines eigenen Jahrhunderts vertraut war, hatte sich für dieses Buch entschieden, da er nicht ohne Grund dachte, dass er mit einem anspruchsvolleren Werk nicht zurecht kommen würde. Das Werk eines unbekannten Autors - auf der Titelseite stand kein Name — beschrieb in einfacher Form all die technischen Geräte, die die Menschen seit dem Anfang des fünfzehnten Jahrhundert der christlichen Ära und bis zu den heutigen Tagen benutzt hatten. Mit besonderem Interesse hatte Wolgin die Beschreibung der Technik aus dem zwanzigsten Jahrhundert gelesen, wobei er sich am meisten auf die kritischen Bemerkungen des Autors konzentrierte. Diese waren einfach und leicht verständlich - so dass es merkwürdig erschien, dass es nicht den Wissenschaftlern und Ingenieuren seiner Zeit eingefallen war. Es war aber auch klar, dass das, was im neununddreißigsten Jahrhundert selbstverständlich war, es im zwanzigsten keineswegs gewesen sein konnte.
>Aber ich verstehe es doch ...<, dachte er.
Das einundzwanzigste Jahrhundert brachte auch keine sonderlichen Schwierigkeiten mit sich, aber danach ging das Lesen nur viel langsamer voran. Die Technik und die Wissenschaft entwickelten sich immer rasanter - je weiter Wolgin las, umso mehr war er davon überzeugt, dass sogar ein Kinderbuch für ihn zu schwierig war. Und daran war nicht etwa der Autor schuld, sondern Wolgin selbst, der keine Grundkenntnisse über dieses Fach besaß. >Warum bin ich nur kein Ingenieur<, dachte er, >sondern ein Jurist! So wie es aussieht, muss ich mir erst einmal die Schulbücher aus der ersten Klasse vornehmen ...<
Was aber die Sprache anging, so hatte Wolgin damit keine Schwierigkeiten. In den vier Monaten, die er in Muncius’ Haus verbrachte, hatte er viel davon gelernt, so dass er nun frei sprechen und lesen konnte. Die Grundlage dieser Sprache war Russisch, das mit Latein vervollständigt war, und ihre Grammatik war einfach und logisch. Weil Wolgin gut Deutsch und Französisch konnte, hatte er leicht in die moderne Sprache gewechselt und seinen Lehrer Muncius in aufrichtiges Staunen versetzt. Der alte Historiker bekam eine seltene Gelegenheit, seine Kennmisse der alten Sprachen zu testen, die er nur aus Büchern kannte und noch nie für ein Gespräch verwenden musste - und nun unterhielten sich Wolgin und Muncius oft auf Deutsch oder Französisch.
Wolgin wusste, dass außer der modernen Sprache auf der Erde nur noch eine existierte - die Fernostsprache, die aus Chinesisch, Japanisch und indischen Dialekten entstanden war. Sie wurde dort gesprochen, wo früher die südostasiatischen Staaten gewesen waren, deren antike Kultur nicht einmal in den vergangenen zwei Jahrtausenden vollständig verschwinden konnte. Aber auch in diesen Regionen kannte man die »offizielle« Erdsprache.
Was aber Wolgin anging, so versuchte er, nicht nur in der neuen Sprache zu reden, sondern auch zu denken. Er ertappte sich immer seltener dabei, dass er auf Russisch dachte - aber das kümmerte ihn nicht weiter, weil er wusste, dass er seine Heimatsprache nie wieder brauchen würde — auf der ganzen Erde gab es nur noch Historiker und einzelne Menschen wie Lucius, die etwas Russisch konnten. Es war zwar so, dass alles wovon Wolgin umgeben war, von ihm fast unbewusst und auf jeden Fall gegen seinen eigenen Willen mit heimlicher Eifersucht behandelt wurde — aber er konnte auch nicht anders als zuzugestehen, dass die neue Sprache alle anderen weit hinter sich ließ, was die Reichhaltigkeit und Ausdruckskraft anbelangte.
Sobald Wolgin fühlte, dass er die neue Sprache gut genug beherrschte, beschäftigte er sich mit der gesellschaftlichen Geschichte, die ihn natürlich am meisten interessierte. Er erfuhr alles, was auf der Erde nach seinem ersten Tod geschehen war (seinen Tod in Paris nannte er inzwischen den ersten Tod, weil er wusste, dass irgendwann unausweichlich der zweite kommen würde). Er hatte aber kein einziges Buch darüber lesen müssen - diese wurden durch Gespräche mit Muncius ersetzt, der nicht nur über alles erzählte, sondern seine Geschichten auch noch mit historischen Filmen illustrierte, die er speziell für Wolgin aus dem Zentralarchiv der
Weitere Kostenlose Bücher