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Die Rueckkehr der Phaetonen

Titel: Die Rueckkehr der Phaetonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgi Martynow
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und Kummer überschwemmte ihn mit der Kraft einer Urgewalt. Ganze Städte waren vom Antlitz der Erde verschwunden und er selbst lebte entgegen allen Naturgesetzen, so als hätte es die unendlich lange Zeit gar nicht gegeben. Sein früheres Leben, das ihm noch vor kurzem so nah schien, versank irgendwo tief im Abgrund der Vergangenheit und plötzlich spürte er mit jeder Zelle seines Wesens, dass er von diesem Leben durch die Kraft getrennt war, die viel mächtiger war als der Tod, durch die Kraft der vergangenen Zeit. Der Tod hatte ihn wieder gehen gelassen. Die Zeit würde es nicht tun. Keine Errungenschaft der Wissenschaft würde ihn in seine gewohnte und geliebte Welt, die er für immer verlassen hatte, zurück versetzen können. Plötzlich wollte Wolgin aufspringen und von Lucius verlangen, ihn wieder in Zustand der Ruhe und Gedankenlosigkeit zu versetzen, in dem es keine Erinnerungen an die Vergangenheit und keine Sehnsucht danach gäbe. Aber diese Gefühlswallung blitzte nur kurz auf und erlosch dann wieder - der starke Wille wurde leicht mit dem Sekundenkleinmut fertig. Wolgin hob den Kopf und stand auf. »Ich muss Ihnen sicher komisch Vorkommen«, sagte er und lächelte gezwungen. »Aber ich werde meine Aufregung einfach nicht los. Es ist nicht so leicht, direkt aus dem Grab zurück zu den Menschen zu gehen. Ihre Kinder werden mich wohl wie ein Gespenst fürchten.«
    Lucius lächelte nicht über diesen gequälten Scherz. Er selbst war nicht weniger aufgeregt. Mit einer seltsamen Klarheit begriff er plötzlich, was das für ein Moment war, den sie beide jetzt durchlebten. Vor ihm stand ein Mensch, der buchstäblich aus dem Reich der Toten zurückgeholt wurde, ein Mensch, der in jenen längst vergangenen und Geschichte gewordenen Jahren geboren wurde, ein lebendiger Vertreter der legendären Menschen, die die ersten Steine in das Fundament des Gebäudes gelegt hatten, welches die heutige Welt war. Mit glatt rasiertem Gesicht und in einem modernen Anzug erschien Wolgin auf einmal ganz anders. Eine Erinnerung an den faltigen, ausgetrockneten Körper, der in einem Glaskasten mit Nährlösung schwamm, tauchte auf und verschwand wieder. Seinem Herzenswunsch nachkommend, ging Lucius zu Wolgin und umarmte ihn. Und Wolgin erwiderte diese Umarmung. Ob Menschen aus unterschiedlichen Zeiten oder nicht, sie beide waren die Kinder derselben Erde. Und als sie sich voneinander lösten, wussten beide, dass diese Umarmung wirklich nötig gewesen war, dass sie beide sich schon seit langem unbewusst danach gesehnt hatten.
    »Ich bin neunzig Jahre alt«, sagte Lucius. »Ich habe dir das zweite Leben gegeben, Dmitrij. Erlaube mir, dich als meinen Sohn anzusehen.«
    »Ich war neununddreißig, als ich gestorben bin«, erwiderte Wolgin. »Und auch wenn ich fast zweitausend Jahre früher geboren wurde, hast du das volle Recht, dich mein Vater zu nennen. Ich würde mich freuen, wenn du es wirklich wolltest. Mein erster Vater starb, als ich noch ein Kind war, und ich erinnere mich nicht mehr an ihn.«
    Lucius nahm eine kleine Schachtel aus der Tasche. »Es war der Wunsch der gesamten Menschheit«, sagte er, »dass ich die Auszeichnung, die dir einst gehört hat, dir wieder zurück gebe. Man hat sie aus dem Museum entnommen, um sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zu geben.«
    Er nahm den Goldenen Stern am roten Band aus der Schachtel und befestigte ihn an Wolgins Brust - mit genau derselben Geste, wie es der längst gestorbene Heerführer auf einem Schlachtfeld des Großen Vaterländischen Krieges getan hatte. Und der Anblick des vertrauten Sterns, der die Jahrhunderte auf wundersame Weise überdauert hatte, hatte eine so übermächtige Wirkung, dass Wolgin sich plötzlich wieder völlig ruhig fühlte. »Komm!«, sagte er zu Lucius. »Gehen wir in die neue Welt.«
    »Versuche, sie lieben zu lernen«, sagte Lucius.
    »Ich liebe sie jetzt schon. Das ist die Welt, nach der wir uns gestrebt haben, die Welt, für die wir kämpften und starben.«
    Die Tür, die in der Wand verborgen war, öffnete sich. Dahinter stand Io, der beide Arme nach Wolgin ausstreckte. »Ich möchte Sie gerne im Namen der gesamten Erde bei uns begrüßen«, sagte er.
    »Danke!«, antwortete Wolgin und umarmte den alten Wissenschaftler ebenfalls. »Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben.«
    Der Gang durch die Halle, die mit Maschinen und Apparaten voll war, die nur dafür hier installiert wurden, um ihm das Leben und die Gesundheit wieder zu geben, blieb

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