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Die Rueckkehr des Henry Smart

Die Rueckkehr des Henry Smart

Titel: Die Rueckkehr des Henry Smart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roddy Doyle
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Keller geholt. Er war hinter mir hergelaufen, knapp ein Jahr alt, hatte sich die ganze Zeit an meinem Hosenbein festgehalten. Und dann hatte es nur noch Victor und mich gegeben. Irgendwann, hatte ich mir gedacht, würden wir zurückkommen, und sie würden da sein, und neue noch dazu, die über meine Mutter wegkrabbelten, während ihr Gewicht sie langsam in den Schlamm drückte. Einmal kam ich zurück, und sie waren weg. Sie waren tot. Auch meine Mutter. Weil ich sie nicht mehr vor mir gesehen hatte.
    Ich war siebenundvierzig. Lil und Gracie waren jünger, mussten Frauen um die vierzig sein. (Aber Gracie ist tatsächlich gestorben, sagte mir meine Erinnerung.) Sie mochten in Dublin leben, in Liverpool oder New York, an irgendeinem der Orte, wo ich gelebt hatte. Unter Iren oder allein. Waren vielleicht verheiratet, Mütter, Großmütter. Genau wie die Jungs, von denen ich nicht mal die Namen wusste. Nur den Nachnamen. Smart.
    Lil und Gracie. Zwei Namen, handfeste Erinnerungen. Zwei Gestalten, zwei Klagelaute.
    Ich wartete, bis es dunkel geworden war. Dann suchte ich mir einen Stein, eine Felsplatte, die aussah, als ob die Filmleute sie da hingelegt hätten. Sie war noch warm von dem Tag, der jetzt gestorben war. Ich setzte mich drauf, ich legte mich hin, ich spürte die kalte Luft, die meine Brust traf. Versuchte mich an sie zu gewöhnen, fröstelte mich in sie hinein.
    Ich sah zu den Sternen hoch. Es waren so viele – so viel Tod, keiner hielt sich verborgen. Alle toten Säuglinge und Kleinkinder waren da oben – die Verhungernden, Milchlosen, Gequälten. Millionen, mehr als Millionen. Sie sahen auf mich herunter und warteten.
    – Es tut mir leid.
    Ich hielt Ausschau nach den Geschwistern, die auf mich warteten. Aber ich sah nur Sterne.
    Es war noch dunkel, als ich aufgab. Aber ich klebte an der Steinplatte, konnte mich nicht bewegen. Ich spürte meine Hände nicht. Konnte weder den Kopf rühren noch die Augen zumachen. Ich musste unentwegt hinsehen. Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte mir nicht helfen.
    Ein Stern schien größer zu werden, heller, gelb – dann weiß. Und ich wusste, wer es war.
    Henry.
    Der andere Henry, der erste und einzige, glühte stolz und zornig. Er starrte mich an, hatte mich an den Stein gedrückt. Er hätte mich umbringen können, er würde mich umbringen. Ein jäher Strahl würde mich treffen und zu Asche verbrennen. Ich würde nur noch ein Schatten auf dem Felsen sein. Ich versuchte, seinen Blick auszuhalten. Aber es war hoffnungslos.
    Er kam nicht näher, er wurde nicht heller. Auch er wartete. Bis ich es begriffen hatte: Die anderen Sterne, unsere Geschwister, hielten sich hinter dem ersten Henry verborgen. Er versteckte sie vor mir hinter dem weißen Glast, und er versteckte mich vor ihnen.
    Die Sterne verblassten, ertranken in dem Morgenlicht, das langsam den Himmel heller machte. Der Schatten einer der wuchtigen Türme legte sich über mich, packte meine Beine in einem eisigen Griff. Und während er mir mein Gesicht und meine Augen nahm, verschwand der Morgenglast, und ich sah, dass da oben noch immer der andere Henry stand und bewachte, was ihm gehörte.
    – Gracie!
    Ich konnte wieder rufen. Mich bewegen.
    – Ich will sie nur sehen! Lil!
    Der Schatten raste über mich weg wie eine Schütte Kies.
    – Gracie!
    Die Sterne waren fort. Die Sonne nagte schon an den langen Schatten.
    Er war immer noch da.
    Es war Nacht, als ich aufwachte. Er saß neben mir. Er hatte einen Klappstuhl mitgebracht.
    – Susie, sagte ich.
    – Susie O’Shea?
    – Nein, sagte ich. – Ich kannte ihren verdammten Namen nicht. Hab ich Ihnen doch erzählt.
    – Wer ist Susie?
    – Meine Schwester. Eine von meinen Schwestern.
    Der Name zerbrach, wurde zu einem anderen. Aber ich schaffte es – so hell war es immerhin schon –, ihn unter die anderen zu schreiben. GRACIE, LIL, SUSIE.
    – Na also, allmählich kommt ja die Erinnerung wieder, sagte er ohne Spott. – Erzähl von der Hochzeit.
    Ich sah unentwegt auf die Namen. Aber das Licht machte sich jetzt aus der Öffnung oben im Tipi davon. Als ich aufgewacht war, waren noch andere Namen um mich gewesen, aber ich hatte nur den einen zu fassen gekriegt. Die anderen spürte ich nur, sie waren noch in der Luft und lösten sich langsam auf.
    Er stieß mit einem Fuß an mein Knie.
    – Die Hochzeit, sagte er.
    Sie waren weg. Aber einen hatte ich erwischt. Einen richtigen Namen, keinen verborgenen Stern.
    – Die haben wir hingekriegt.
    – Und was war mit

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