Die Rückkehr des Sherlock Holmes
vorher, was er tun würde. Der Deutsche aber ging ohne Strümpfe los. Er hat also bestimmt sehr überstürzt gehandelt.«
»Zweifellos.«
»Warum ist er gegangen? Weil er von seinem Schlafzimmerfenster aus die Flucht des Jungen beobachtet hat. Weil er ihn einholen und zurückbringen wollte. Er nahm sein Rad, verfolgte den Jungen und fand dabei den Tod.«
»So möchte es scheinen.«
»Nun komme ich zum kritischen Teil meiner Argumentation. Wenn ein Mann einen kleinen Jungen verfolgt, wird er ihm normalerweise hinterherlaufen. Er wüßte, daß er ihn einholen könnte. Aber der Deutsche macht das nicht. Er nimmt sein Fahrrad. Man hat mir gesagt, er sei ein ausgezeichneter Radfahrer. Er hätte das nicht getan, wenn er nicht gesehen hätte, daß dem Jungen ein schnelles Fluchtmittel zur Verfügung stand.«
»Das andere Fahrrad.«
»Fahren wir in unserer Rekonstruktion fort. Fünf Meilen von der Schule entfernt findet er den Tod – nicht durch eine Kugel, beachten Sie das, die auch ein Knabe leicht hätte abfeuern können, sondern durch einen brutalen Schlag, erteilt von einem kräftigen Arm. Der Junge hatte demnach einen Begleiter auf seiner Flucht. Und es war eine hastige Flucht, denn ein geschickter Radfahrer brauchte fünf Meilen, um die beiden einzuholen. Nun untersuchen wir den Boden um den Schauplatz dieser Tragödie. Was finden wir? Ein paar Viehspuren, sonst nichts. Ich habe einen weiten Streifen ringsum abgesucht und binnen fünfzig Yards keinen Pfad gefunden. Ein zweiter Radfahrer konnte mit dem tatsächlichen Mord nichts zu tun gehabt haben. Und menschliche Fußspuren waren auch keine da.«
»Holmes«, rief ich, »das ist unmöglich.«
»Vortrefflich!« sagte er. »Eine sehr erhellende Bemerkung. So wie ich es darstelle,
ist
es unmöglich, und daher muß ich es in irgendeiner Hinsicht falsch dargestellt haben. Aber Sie haben es ja selbst gesehen. Können Sie irgendeinen Trugschluß erkennen?«
»Er könnte sich nicht bei einem Sturz den Schädel gebrochen haben?«
»In einem Sumpf, Watson?«
»Ich bin mit meinem Latein am Ende.«
»Tz, tz; wir haben schon schlimmere Probleme gelöst. Immerhin haben wir Material genug, wir müssen es nur gebrauchen können. Kommen Sie also; nachdem wir den Palmer erschöpft haben, wollen wir sehen, was uns der Dunlop mit dem geflickten Mantel zu bieten hat.«
Wir nahmen die Spur wieder auf und folgten ihr einige Zeit; doch bald schwang das Moor sich in einer langgestreckten, heidekrautbewachsenen Biegung aufwärts, und wir ließen den Wasserlauf hinter uns. Mit weiterer Hilfe durch Spuren war nicht mehr zu rechnen. Ab der Stelle, wo wir den Dunlop-Reifen zum letztenmal sahen, hätte er gleichermaßen nach Holdernesse Hall, dessen stattliche Türme sich einige Meilen links von uns erhoben, wie auch zu einem kleinen grauen Dorf führen können, das vor uns lag und die Lage der Hauptstraße nach Chesterfield bezeichnete.
Als wir uns dem abstoßenden und elenden Gasthof näherten, über dessen Eingang ein Schild mit einem Kampfhahn hing, stöhnte Holmes plötzlich auf und klammerte sich an meine Schulter, um nicht hinzufallen. Er hatte sich kräftig den Knöchel verstaucht, was einen Mann bekanntlich hilflos macht. Mühsam humpelte er zu der Tür, in der ein untersetzter, finsterer, älterer Mann saß und eine schwarze Tonpfeife rauchte.
»Wie geht’s, Mr. Reuben Hayes?« sagte Holmes.
»Wer sind Sie, und woher kennen Sie meinen Namen so genau?« fragte der Landmann, und seine verschlagenen Augen blitzten argwöhnisch auf.
»Nun, der steht auf dem Schild über Ihrem Kopf. Und einen Hausherrn zu erkennen, ist nicht schwer. Ich vermute, in Ihren Stallungen haben Sie keine Kutsche oder etwas dergleichen?«
»Nein, hab ich nicht.«
»Ich kann mit meinem Fuß kaum noch auftreten.«
»Dann treten Sie nicht auf.«
»Aber ich kann nicht gehen.«
»Dann hüpfen Sie doch.«
Mr. Reuben Hayes’ Gebaren war alles andere als liebenswürdig, aber Holmes nahm es mit bewundernswert guter Laune hin.
»Schaun Sie, guter Mann«, sagte er. »Ich bin wirklich ziemlich in der Klemme. Ich muß unbedingt weiter, ganz egal wie.«
»Mir auch egal«, sagte der mürrische Gastwirt.
»Die Sache ist sehr wichtig. Ich würde Ihnen einen Sovereign anbieten, wenn Sie mir ein Fahrrad überließen.«
Der Wirt spitzte die Ohren.
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Nach Holdernesse Hall.«
»Freunde vom Herzog, ja?« sagte der Wirt und musterte ironischen Blicks unsere schlammbedeckte
Weitere Kostenlose Bücher