Die Rückkehr des Tanzlehrers
königlichen Beamten wurde.«
»Dann ist es während seiner Zeit beim Militär passiert.«
»Ungefähr so denke ich auch. Aber es dauert lange, die Militärarchive zu durchforsten. Wir sollten uns schon jetzt die Frage stellen, was geschehen sein kann, wenn es sich zeigen sollte, daß er auch in seiner Zeit beim Militär nicht verletzt worden ist.«
»Würde es das Bild verändern?« fragte Stefan.
»Alles verändert das Bild. Genaugenommen haben wir noch gar kein Bild. Einen Täter werden wir auf absehbare Zeit nicht finden. Meine Erfahrung sagt mir, daß dies lange dauern wird, weil tief gegraben werden muß. Was sagt dir deine?«
»Daß du wohl recht hast.«
Giuseppe nieste. Stefan wartete.
»Ich dachte mir, du würdest das wissen wollen«, sagte Giuseppe, als er wieder sprechen konnte. »Morgen werde ich übrigens Molins Tochter treffen.«
»Sie wohnt hier im Hotel.«
»Ich habe geahnt, daß ihr euch treffen würdet. Welchen Eindruck macht sie auf dich?«
»Reserviert. Aber sie ist sehr schön.«
»Dann kann ich mich ja auf etwas freuen. Hast du mit ihr gesprochen?«
»Wir haben zusammen zu Abend gegessen. Sie hat etwas gesagt, was ich jedenfalls nicht gewußt habe. Über diese verschwundenen Jahre Mitte der Fünfziger. Sie behauptet, Herbert Molin habe zwei Musikgeschäfte in Stockholm geführt, sei aber in Konkurs gegangen.«
»Ich nehme an, sie hat keinen Grund, so etwas zu erfinden.«
»Kaum. Du triffst sie ja morgen.«
»Ich werde sie auf jeden Fall nach den Schußverletzungen fragen. Hast du dich entschieden, wie lange du bleibst?«
»Vielleicht morgen noch, dann fahre ich. Aber ich melde mich.«
»Tu das.«
Sie beendeten das Gespräch. Stefan ließ sich schwer aufs Bett fallen. Er merkte, daß er müde war. Ohne auch nur die Schuhe auszuziehen, streckte er sich aus und schlief ein.
Er erwachte mit einem Ruck und sah auf die Armbanduhr. Viertel vor fünf. Er hatte geträumt. Jemand hatte ihn gejagt. Dann war er plötzlich von einer Meute Hunde umgeben gewesen, die an seinen Kleidern gezerrt und große Stücke aus seinem Körper herausgerissen hatten. Irgendwo war auch sein Vater gewesen. Und Elena. Er ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Der Traum ist leicht zu deuten, dachte er. Die Krankheit, die ich mit mir herumschleppe, die Zellen, die sich unkontrolliert vermehren, sind wie eine Meute wilder Hunde, die in meinem Innern herumjagen. Er zog sich aus und kroch zwischen die Laken, konnte aber nicht mehr einschlafen. Morgens, vor der Dämmerung, fühlte er sich immer am verletzlichsten. Er dachte, daß er siebenunddreißig Jahre alt war. Ein Polizeibeamter, der versuchte, ein anständiges Leben zu führen. Nichts Besonderes. Ein Leben in den Bahnen des Gewöhnlichen. Aber was war eigentlich gewöhnlich? Er näherte sich rasch den mittleren Jahren und hatte noch nicht einmal Kinder. Und jetzt sollte er gegen eine Krankheit angehen, die vielleicht stärker sein würde als er.
Um sechs Uhr stand er auf. Frühstück gab es erst ab halb sieben. Er suchte frische Wäsche aus seinem Koffer, dachte, daß er sich rasieren sollte, ließ es aber bleiben. Um halb sieben war er unten in der Rezeption. Die Türen zum Speisesaal waren angelehnt. Als er hineinschaute, entdeckte er zu seiner Verwunderung, daß das Mädchen, das zwischen den Rollen der Empfangsdame und der Bedienung im Speisesaal hin und her wechselte, auf einem Stuhl saß und sich mit einer Serviette die Augen trocknete. Er zog sich hastig zurück. Dann schaute er noch einmal. Offenbar hatte sie geweint. Er ging die halbe Treppe, die zum Speisesaal hinunterführte, wieder hinauf und wartete.
Die Türen wurden aufgezogen. Das Mädchen lächelte. »Sie sind aber früh auf«, sagte sie.
Er betrat den Speisesaal. Während er seinen Tisch aufsuchte, fragte er sich, warum sie wohl geweint hatte. Aber es ging ihn nichts an. Jeder hat sein eigenes Elend, dachte er. Seine Hundemeute, gegen die er zu kämpfen hat.
Sobald er vor seinem Frühstück saß, faßte er einen Entschluß. Er würde noch einmal zu Herbert Molins Haus fahren. Nicht weil er glaubte, noch etwas Neues entdecken zu können. Sondern um im Kopf noch einmal durchzugehen, was er inzwischen wußte. Und das, was er nicht wußte. Dann würde er alles dem Schicksal überlassen. Er würde nicht in Sveg bleiben und auf die Beerdigung warten. Gerade jetzt mochte er sich so etwas am allerwenigsten aussetzen. Er würde nach Boras zurückkehren, seine Koffer neu packen und
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