Die Ruhelosen
Loch, und heraus aus dem Berg kam damals keiner mehr. Andere raffte ein geheimnisvolles Fieber dahin, und wieder andere kehrten unterwegs um, weil sie das Heimweh zurückzog an die Gestade unseres Sees. Ach, unser See … Ja, was trieb einen in jener Zeit, einen, eine Familie, eine ganze Sippschaft, ein Dorf dazu, über so viele unwirtliche Kilometer hinweg unbeirrt und stur gen Süden zu wandern, grad ebenso, wie die Vögel im Herbstlicht zogen? Ungewissheit stand sich Aug in Aug mit Hoffnung. Es muss ein seltenes Aufbegehren gewesen sein, dieses Festhalten am Glauben, dass das Neue auf jeden Fall besser zu sein habe, als es das Altbekannte war. Es muss die Flucht vor der Menschenfresserei gewesen sein, die die
Unserigen dazu bewog, Tritt vor Tritt zu setzen und immer weiter zu gehen, einen Ochsen an der einen Hand und ein Kind oder zwei an der andern.
Aber auch mindestens eine Geburt gab es auf dieser Reise und damit Verheißung für einen nahen Neubeginn. Eine Hattu kam unterwegs nieder und konnte sich dazu nur für wenige Stunden vom Trupp zurückziehen. Ich weiß das, weil die Großmutter meiner Großmutter meiner Großmutter und so weiter ihr bei der Geburt als Helferin zur Seite stand. Doch, doch, man hat sich das erzählt und wieder erzählt und wieder erzählt, bis diese Erzählung schließlich so wie am ersten Tage bei mir angelangt ist und ich sie nun heute an euch weiterreiche. Die Hattufrau musste bald darauf wieder aufstehen, den Säugling schultern und die Zähne zusammenbeißen.
So hatte man das damals gemacht, seht ihr? Die Zähne ganz, ganz fest aufeinandergebissen und eine Sache durchgestanden, bis man ganz an ihrem Ende angelangt war. Nicht ohne Grund ist bei uns
kräftig wie ein Bauerntritt und fest wie ein Gebiss
zum geflügelten Wort geworden, uns hält nichts zurück.«
Die Kinder, die noch wach waren, lachten unsicher.
»Ich kann euch nicht mehr mit Gewissheit sagen, wie lange diese Reise dauerte, bestimmt waren es Tage, vielleicht mehrere Wochen oder Monate, ich weiß es nicht, man müsste einmal zurückkehren zu Fuß und dabei die Tage zählen, dann wüsste man es vielleicht, aber einerlei, wie viele Sonnen und Monde die Unserigen haben werden sehen über den Hügeln und Bergen, den Wäldern und Wiesentälern dieser gottesherrlichen Welt: Irgendwann hatten sie es geschafft. Irgendwann waren die Menschen von Bolzwang, die Hattus und die Boschs und all die anderen ungezählten Bauersfamilien, angekommen und hatten in der Hochebene von Asiago die Sieben Gemeinden und die Dreizehn Gemeinden bei Verona gegründet. Sie verwalteten sich selber, sprachen ihre
Sprache, ein letztes Glied einer langen Kette von Erinnerungen, die sie nach und nach ablegten, als aus den alten Bauern neue wurden und immer wieder neue aus ihnen hervorkamen.
Denn die Sprache, meine Lieben, die Sprache ist ein gar kostbares Gut. Sie verbindet uns mit unserer Kultur, und das heißt: mit vergangenen Tagen und künftigen zugleich. Nur wer die Sprache seiner Vorfahren spricht, vermag deren Weisheit auch den Nachkommen zu vermitteln. Einzig in der Sprache der Vorfahren ist vieles enthalten, was anders nicht gesagt werden kann. Es ist eine Schande, dass ihr diese alte Sprache nicht mehr sprecht. Ihr wachst hier auf und lernt dieses Harte, Kratzige der ungeschlachten Schweizer – oh, meine lieben Ahnen, vergebt mir, dass ich nicht öfter Zimbrisch mit ihnen gesprochen habe! Oi, oi, oi, oi, oi.
So verging also die Zeit. Über Hunderte von Jahren waren wir eine eigenständige deutschstämmige Bauernrepublik. Natürlich passten wir uns an, das Land hatte uns ja aufgenommen mit offenen Armen und mit reicher Ernte beschenkt, Jahr für Jahr, und wir dankten, indem aus den Hattus Attus und dann später Addas wurden, und aus uns Boschs schliff die Zeit den Namen di Bosco heraus.
Von den Wäldern, das passt ja auch, und was ist schon ein Name, wenn das Herz weiß, wo es hingehört?
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, vor etwas mehr als hundert Jahren also,
Kinder, hundert Jahre, das ist ein Begriff der Zeit, den ihr nicht in Händen halten könnt, weil euer Geist noch so jung ist,
vor vielen vielen Jahren also, aber doch nicht so weit weg, als dass sich die neue Welt nicht daran erinnern könnte, kamen die Sieben Gemeinden zu Österreich. Ein gewisser Herr Napoleon nahm uns unsere Eigenständigkeit weg, und bald darauf begann die Italianisierung. Noch einmal ein paar Handvoll Jahre später, und wir wurden dem Königreich Italien
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