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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Die Bedrohung war da, das spürte sie in jedem Blick, und so hatte sie sich angewöhnt, an den Menschen vorbeizuschauen, die in ihr Comestibles kamen, und ihnen so mit ihrer Unhöflichkeit und Ablehnung zumindest zuvorzukommen.
    Gequält vom dauernden Wahn, jede und jeder würde siewann immer möglich um ihr Geld bringen wollen, war aus Comsola eine regelrechte Kontrolleurin geworden. Man hätte sie ohne Zweifel als Zuchthauswärterin engagieren können. Dass sie Schäufelchen um Schäufelchen je zweimal wog und sogar an der Funktionstüchtigkeit der Waage selbst zweifelte, war zur lästigen Schrulle geworden, über die ihre Kundschaft kaum mehr lachen mochte. Aber es nützte nichts, denn wenn Comsola merkte, dass es ein Käufer eilig hatte, legte sie die Papiertüte gerne noch ein drittes Mal auf die Waage und rupfte daran herum, um sicher zu sein, dass ihr in der Eile und dem Druck, den diese Menschen auf sie ausübten, kein Fehler unterlief. Nur nicht unvorsichtig werden, lieber zweimal hinschauen, als einmal mehr übers Ohr gehauen zu werden. Die Tatsache, dass es kein einziges Mal zu einer »Überführung« gekommen war, der Umstand, dass sie auch nie jemanden tatsächlich beim Klauen gesehen oder erwischt hatte, beruhigte sie keineswegs. Sie musste einfach noch mehr auf der Hut sein, noch genauer aufpassen und noch sorgfältiger abwägen, wem sie Vertrauen schenken wollte und wem nicht. Den meisten nicht. Eigentlich niemandem so wirklich.
    Woher ihr Unmut den Schweizern gegenüber rührte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Ihr Argwohn wuchs dennoch rasant, vielleicht auch, weil sie selbst sich den Schweizern gegenüber so oft als unzulänglich empfand. Sie waren hier alle so pedantisch, so ordentlich, so sauber, so pünktlich, so perfekt, sie hielten alle so zusammen! Wie eine Wand der Ignoranz, an der sie abprallte und sich aufriss.
    Die Lebensleichtigkeit ihrer eigenen Landsleute tat sie alsbald als Leichtsinn ab, und es war ihr Ziel, ihre einzig wahre Überlebensgarantie, selber eben noch pedantischer, ordentlicher, sauberer, pünktlicher, perfekter zu werden als alle Schweizerinnen und Schweizer zusammen. Nur so wäre sie gegen etwas gefeit, das sie selbst nicht benennenkonnte, das ihr aber Angst machte und sie ausgrenzte. Ein Gefühl nur, aber eines, das ihr hartnäckig in den Knochen saß und in eben dieser Vorstellung von den zusammenrollenden Rändern der Schweiz endete.
    Wenn sie dann endlich nach dem Großreinemachen der beiden Lokalitäten auf der Liege ihre krummen Beine ausstreckte, die beiden rosa Pantoffeln mit den Puscheln locker an den Füßen wippend, wenn sie dann endlich, endlich einmal ausatmete, wussten ihre Kinder: Jetzt war die Zeit der Geschichten da. Dann ließ sie sich gerne von ihnen zu langen Erzählnächten verführen, dann konnte sie für einen Augenblick ihre Sorge vergessen, dass die Gäste des Restaurants sie begaunerten, wann immer sie im Laden war, und dass die Kunden des Ladens sie begaunerten, wann immer sie im Restaurant war. Vom Personal ganz zu schweigen.
    Und eins ums andere setzten sie sich zu ihr hin, angefangen mit dem Ältesten, Tullio, über Benedetto, Nunzio, Severino und Ultimo, der der Letzte hätte sein sollen, aber la bionda Aurora, zwei Jahre alt, belehrte sie alle eines Besseren. Sechs Kinder installierten sich und machten sich bereit für ein wohliges Kribbeln, Privileg der Zuhörerschaft, bis sie schließlich alle ihre Beine und Arme irgendwo untergebracht hatten und Decken und Deckchen, vor, neben und auf der Liege, und ihre Mutter mit einem langgezogenen »Ecco«, das aus der Tiefe ihrer Brust drang, zu erzählen anhob. Es waren Geschichten, Märchen, Fabeln, die sie mit ihren Worten wie aus dem Nichts in die Wohnstube trug und zum Leben erweckte. Jeder Person, jedem Tier schenkte sie dazu eine eigene Stimme, mal kehlig-kratzend, mal kreidig-weich, und so erlebten die Kinder ganze Bilderstürme, deren Wirkung sie manchmal spätnachts noch bis in ihre Träume verfolgte. Egal, welche Geschichte Comsola heute aus dem vielfächrigen Erinnerungs-Sekretär ihrerPhantasie kramen würde, man würde sich ganz bestimmt gruseln, freuen, man würde ganz bestimmt mitfiebern können und ganz bestimmt staunen. Am allerliebsten hörten sie jedoch diese eine alterslose Geschichte, welche Comsola immer wieder und mit ganz besonders eindringlicher Stimme vortrug: die Geschichte der Menschen von Bolzwang, die einst auszogen, den Süden urbar zu machen.
    »Vorrei contare.

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