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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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zugeschlagen. Unser geliebtes
Zimbrisch getrauten wir uns da nur noch hinter vorgehaltener Hand zu sprechen. Und so ist das geblieben, ihr lieben Kinderlein, Nachkommen der Menschen von Bolzwang, heute sprechen dort unten nur noch wenige die Sprache jener Zeit.«
    Comsola schaute von einem ihrer Kinder zum anderen. Die, die noch wach waren, hatten die Augen sperrangelweit offen und warteten auf das gewohnte Ende dieser Geschichte, darauf, dass sich ihre Eltern nur dank dieser Muttersprache wiedererkannt hatten durch fremde Wände hindurch in einem neuen, fremden, fernen Land. Und wirklich. Sie sagte es. Auch dieses Mal.
    »Die Sprache hat uns wieder zueinander geführt. Keiner, der wirklich fühlt, kann ihrem Klang wiederstehen. Und um sie wieder sprechen zu können, bin ich damals fortgezogen. Deshalb, und weil meine Brüder es für das Beste hielten, mich mitzunehmen in diese kleine Schweiz.
    So. Und jetzt sind wir hier, Kinder, und bilden unsere eigene kleine verschworene Gemeinschaft. Wir werden schon irgendwie zurechtkommen mit diesen Seebewohnern hier. Wir wohnen zwar nicht mehr bei den Büschen von Wirms, nicht mehr in Bolzwang, und unser Name ist auch nicht mehr Bosch oder di Bosco, aber erinnert euch daran: Unsere Beine vermögen uns jederzeit so weit zu tragen, wie unsere Träume wandern. Man muss sich nur erheben und gehen. Schritt für Schritt für Schritt für Schritt. Fragt den Papa, er wird es euch bestätigen. Auch als Senigaglia. So. Und nun schlaft. Der Herrgott wird über euch wachen und bei euch sein.«
    Als auch das letzte Äuglein von des Schlafes Gewicht beschwert traumsäumelnd geschlossen war, raffte sich Comsola auf, schob ihre Füße in die Puschelpantoffeln zurück und stiegelte die Treppen hinunter. Im Keller des Comestibles wollte sie noch ein letztes Mal nach demRechten sehen. Obwohl ihr Guerrino nicht wirklich Glauben schenkte, beharrte sie auf der Richtigkeit ihrer Erzählung, predigte die Wirklichkeit ihrer Erinnerung und behauptete weiterhin stur, sie hätte dort vor zwei Tagen mit eigenen Augen gesehen, wie die eine Bachratte die andere am Schwanz gezogen hätte, derweil jene ein rohes Ei auf ihrem Bäuchlein trug. »Come una barca«, wie ein Schifflein hätte sie ausgesehen, mit voller Fracht, und die andere Ratte »com’il capitano«. Nutzlos, Guerrino dazu bewegen zu wollen, mitzugehen. Er lachte ja sogar noch immer darüber, dass seine Frau allen, die es wissen wollten, erklärte, aus dem Gelben des Eis kämen die Hühner und aus dem Weißen die Federn. Stupida! Also hebelte sie nun alleine an den Fallen herum, die sie gestern schlauerweise aufgestellt hatte. Noch einmal wollte sie sich nicht beklauen lassen. Schon gar nicht von einer Bachratte aus dem Dorfbach Küsnachts.

gesichert
    Bern, 1916
    Im Weiteren: Ferenc Schön, von Oedenburg, Ungarn, geboren den 26. September 1888, Coiffeur in Bern, Ehemann der Mauritzia geborene Styger, geboren 1890, Vater von drei minderjährigen Kindern, welchem die gemischte Gemeinde Peuchapatte das Ortsburgerrecht zugesichert hat.
     
    Mit der Gewissheit dieser gewichtigen Notiz, publiziert im Tagblatt des Großen Rates des Kantons Bern (Sitzung vom 1. November 1916), wusste der fahnenflüchtige und mittlerweile staatenlose François Schön: Jetzt konnte ihm gar nichts mehr passieren. Europa wurde neu verteilt, und er hatte sich das richtige Stück Land für sich ausgewählt.

alle Folgerichtigkeit der Dinge
    Aarau, 1916
    In der Aarauer Altstadt, wo sich Häuserdach an Häuserdach schmiegte und in den schmalen hohen Zwischenräumen dürre Bäumchen ihre Krone gen Himmel reckten, wo es nach frischem Brot und nach dem nahen Fluss roch und wo die Nachbarn abwechselnd ihren Hut lüpften, sobald sie einander auf der Straße kreuzten und das manchmal mehrmals am selben Tag, spielte Cheina Malka Moisseiff im ersten Hotel am Platz, dem Hotel Gerber Terminus, Violine. Fünf Kutschen mit Fuhrmann und der Portier erwarteten die Gäste der Schnellzüge am Bahnhof, um sie über die eine Querstraße vor die Tore des Hotels zu chauffieren, wo drei Schweizer Fahnen an hohen Stangen flatterten. Schräg vis-à-vis des Bahnhofplatzes wachten drei barbusige Sphingen über dem Eingang eines reichverzierten mehrstöckigen Geschäftshauses, daneben prangte das imposante Postgebäude, und davor patroullierte in unregelmäßigen Abständen die elektrische Straßenbahn.
    Aarau mit seiner Kettenbrücke und dem Streben nach Größe, Aarau, ehemalige Hauptstadt der

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