Die Ruhelosen
Helvetischen Republik von Napoleons Gnaden, Aarau, ein lauschiges Städtchen, Mélange von Zerfall und Frische mit einem Hauch von Fin de Siècle, der im Geäst der kargen Bäumchen hängengeblieben war und um die Stämme herumwaberte, von den Straßenkehrern und Passanten regelmäßig übersehen. Was die Aarauerinnen und Aarauer viel lieber sahen, war das russische Frauenorchester im Hotel Gerber Terminus.
Cheina, ihre Schwester und ihre Mutter spielten, wo immeres für sie Unterkunft und Essen gab. Viel wollten sie nicht. Nur irgendwie überleben. Zusammen mit anderen Frauen aus Russland waren sie so etwas wie eine Attraktion, etwas von großer Zugkraft, eine Glanznummer, die es unbedingt zu sehen galt in diesem Kanton, in diesen Zeiten.
Für Cheina blieben Publikum und Patron ohne Gesicht. Für sie gab es nur ihre Geige. Die Musik, die sie damit hervorbrachte, ließ sie wie auf Flügeln sich erheben und aus diesem grauen Loch entschweben, die Musik ermöglichte ihr, diese Lokalität, diese Stadt, dieses Land weit unter sich zu lassen, Europa absinken zu lassen in ungreifbare Nebel; die Musik ließ sie los.
Angestrengt trapezierten ihre Finger über das Griffbrett des Instruments, ihre Augen blieben starr in die eine Richtung fixiert, eine staubige Ecke des Salons, derweil ihr Kopf und hin und wieder, je nach Akkord, auch ihr Rumpf sich ruckartig bewegten. Ihr ganzer Körper: Muskulatur. Ein Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung, ein Anziehen und Lösen, Auferstehen und Ersterben im Takt der Musik.
Ohne Frage, sie war das Zentrum dieses Orchesters; was von ihr ausging, war mehr als nur Rhythmus und Klangfolge der Töne, ihr Bogenschwung war mehr als nur der Taktstock: Sie hatte etwas Zwingendes. Es schien, als befehlige sie mit ihrer Musik ein unsichtbares Heer durch eine nebulöse Schlacht, die – für sie – von vornherein verloren war. Denn immer war da auch etwas Kühles, Ungreifbares, Tragisches, das dem Publikum ein leises Frösteln über den Rücken laufen ließ – von dem es nie genug bekommen konnte. In diesen Jahren des Großen Krieges, wo keiner so recht wusste, was der Morgen bringen würde, und man sich das Fühlen auf Abstand hielt, war hier im Gerber Terminus eines gewiss: Diese junge Frau spielte jede nur erdenkliche Gefühlsregung, jede Sinneslage, jede Gemütsverfassung inden klarsten Tönen. Sie schnitten durch die allgemeine Empfindungslosigkeit, die Haltung der Verwahrung derer, denen es besser ging, schnitten in die Herzen der Menschen und brachten sie zum Bluten. Ein Aderlass als Heilverfahren, Verstockung, die sich auflöste, Lebendigkeit, die endlich wieder sein durfte, auf dass sich Mann und Frau wieder spürten in ihren Jacken und Mänteln und Kleidern und Blusen, auf dass da wieder Körper war und Seele, auch wenn der Kopf verwirrt blieb und die meisten gar nicht wussten, wohin mit all diesem Gefühl.
Cheina spielte, und ihre Figur war reinste Grazie. In ihrem weißen Kleid aus plissiertem Crèpe mit den längs abgesteppten Ärmeln und dem hohen bestickten Kragen, der sich um ihren bleichen Schwanenhals schloss wie ein Band um eine Wunde, mit dem breiten Seidengürtel und der Schildpattschnalle, der ihre mädchenhafte Taille noch zusätzlich hervorhob, und mit der überdimensionalen Schlaufe im ewig langen schwarzen Haar, das sie im Nacken streng zusammengebunden hielt, war sie unwiderstehlicher Magnet und unnahbare Gottheit zugleich, Anfang und Ende jeder Leidenschaft, und nur das brüchig gewordene Leder ihrer weinroten Knopfstiefel verriet so etwas wie Mensch, Armut, Asyl. Die Männer beobachteten jede einzelne ihrer Bewegungen, jedes Zucken ihrer schweren Augenlider erschütterte sie, als ob der Erdboden selbst unter ihren Füßen bebte. Und sie wussten nicht, was sie mehr fürchten sollten, einen einzigen Blick dieser unnahbaren Frau oder das Horn des Feindes in ihren Gassen. Wenn sie einen doch nur einmal anschauen würde, wenn sie doch nur, ein einziges Mal nur …, aber dieses exotische Wesen Gottes blieb der Aarauer Welt verschlossen. Aaraus Enigma, und niemand, der es zu entziffern verstand. So stand sie da, Abend für Abend im Hotel Gerber Terminus und spielte.
Cheinas Spiel war anstrengungslos; sie wusste: Die einzigeAnstrengung, die ihr das Leben abverlangte, war Nichtspielen. Nichts war schlimmer als das. Nichts unmöglicher, verstörender. Zerstörender. Also spielte sie, bis ihre Finger brannten. Alles, alles, jedes Notenblatt, das ihr in die Hände
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