Die Ruhelosen
keine hundert – und Österreich-Ungarn machte mobil.
Stupid und eidestreu zog das Deutsche Kaiserreich in den Krieg gegen Serbien und damit ebenso eidestreu das Zarenreich in den Krieg gegen Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, was wiederum die Französische Republik auf den Plan gerufen hatte …, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Großbritannien und Italien aufgestellt waren. Mit Entsetzen las Elia, dass die Selbstverwaltung Triests einmal mehr diskutiert wurde, da Italien den Tumult der Stunde für sich zu nutzen plante.
Elia spürte, wie ihm der Speichel im Mund pappig wurde. Ihm waren politische Verwicklungen und Händel zutiefst zuwider, und er versuchte, seine Düsternis Tag für Tag, Woche um Woche und Monat für Monat wegzuspielen.
Als aber ein Telegramm seines Vaters eintraf mit der Mitteilung, dieser sei sehr krank und der Sohn möge umgehend nach Fiume zurückkehren, falls ihm ein letztes Wiedersehen am Herzen läge, packte Elia Costantino Italo Israël sein Gold und die Geldscheine in die Geheimfächer seines Instrumentenkoffers, heuerte für ein letztes Engagement an und schiffte sich ein, zurück nach Hause.
Den Begriff der Zeit, und wie sie vergeht und die Dinge verändern kann, empfand Elia auf dieser Rückreise fast physisch. Er beklagte allerlei kleine Schmerzen in den Gelenken, mochte nichts tragen, halten, fassen, und ihm war, egal, was er nun auch täte, er hätte seine Geschicke nicht mehr in seiner Hand.
Die Nachricht, dass sein bislang angehäuftes Geld, zusammengespart aus Gagen, auf der Fiumeser Bank wertlos geworden war, ersparte er seinem Vater. Während er den eigenenSchock darüber weitgehend unter Kontrolle zu halten versuchte, ließ er sich von den Ärzten aufklären, und zuletzt, als sein Vater tatsächlich verstarb, suchte er den Rabbi Herz auf, der zu seinem großen Erstaunen Elia Primo doch tatsächlich die ganzen Jahre über ein zentrales Grab frei gehalten hatte.
Sämtliche Geschäfte des Vaters wurden danach mehr schlecht als recht verkauft. Abelarda entschloss sich, zurück nach Triest zu ziehen zu ihren Verwandten. Elia Costantino Italo lungerte noch eine Weile in Fiume herum, befürchtete dann aber, als Soldat einberufen zu werden, und machte sich kurzerhand auf in die Schweiz – ausgerechnet in ein Binnenland, ja bin ich denn verrückt? Aber für eine Rückkehr nach Südamerika reichte ihm das Geld nicht, und die Menschen, die als vermeintliche Musiker auf einem Dampfer flüchteten, sprengten ohnehin schon jedes Ensemble, die Schiffsstege waren voll mit Scharlatanen, die noch irgendwie unterkommen wollten.
Gerade als Jude spürte er, wie sich die Schlinge enger zog, und so brauchte er nicht lange zu überlegen: Ein neutraler Kleinstaat, der schon seit 1848 von sieben Bundesräten geführt wurde, konnte unmöglich so dumm sein wie ein Großreich, das von nur einem Einzelnen regiert wurde, dessen einzige Legitimation blaues Blut war. Er wusste zwar nicht genau, wohin er in diesem Land ohne Meer gehen sollte, aber für einen talentierten Musiker mit einem Repertoire, das von Ost nach West, von Süd nach Nord reichte, würde sich allemal ein Plätzchen finden. Es war höchste Zeit.
Bildersturm
Küsnacht, 1916
So richtig ruhig und entspannt war Comsola nur an den wenigen Tagen, an denen die Wirtschaft geschlossen blieb, und auch dann erst, wenn sie selber Feierabend machte, alle Tablare fertig gereinigt und die Stühle wieder von den Tischen gehoben hatte, zurückgestellt und rechtwinklig ausgerichtet auf dem blank polierten Boden. Das Weltgetöse, die Sorge um die Ihren, die in Vallonara und Marostica zurückgeblieben waren, die Sorge auch um Guerrinos Geschwister – all das zog einen luftdichten Schleier um sie herum. Im Umgang mit ihren Kunden wurde sie zusehends nervöser. Wenn die Welt verrücktspielte und jeder nur auf den eigenen Vorteil aus war, wer wusste dann schon zu sagen, was als Nächstes kommen würde? Was im Großen möglich war, könnte sich im Kleinen vervielfachen, folgerte Comsola düster, und ehe man sich’s versah, könnten sich die Ränder der Schweiz durch die äußeren Einflüsse nach innen aufrollen, und was, wenn dann plötzlich kein Platz mehr wäre, in diesem Land von Zucker, Honig und Milch? Was, wenn die Dorffrauen, die in der Kirche Socken für die Grenzsoldaten strickten, plötzlich aufbegehrten gegen die Zugezogenen, oder schlimmer: wenn alle, die nicht den Eid geschworen hatten, dies Land verlassen müssten?
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