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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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stehst, erreichst du mit dem letzten Bissen schon die andere. So klein ist dieser Kanton, da kennt einfach jeder jeden. So winzig klein. Ja …, wenn man darüber hinauswachsen könnte …
    Drei Tage lang beharrte Alda darauf, man möge ihr die Haare kurz unterhalb der Ohrenlinie abschneiden. Sie behauptete, es würde ihr dadurch viel Mühe erspart, und zudem gewänne sie so mehr Zeit, um ihrer Schwester den Zopf zu flechten.
    Als die ganze Verwandtschaft sich im Sommer wie gewohnt zu einem Picknick auf der Rütliwiese traf, ging ein einträchtiges Nicken durch Tanten und Onkel, und Alda war’s, als ob sich damit ein alter Schwur bestätigt hätte.

das Mazel der Wanderjahre
    Lausanne, bis 1925
    Was Cheina nicht wusste, war, dass Elia, mittlerweile Hutfabrikant in Lausanne, heimlich Nachforschungen über den Verbleib ihrer Mutter und ihrer Schwester unternommen hatte. Bereits kurz nach ihrer Heirat 1917 war der Kontakt zu den beiden abgebrochen, dieses erste aufregende Ehejahr hatten ihre Angehörigen nicht mehr miterlebt. Sie waren mit dem Orchester weitergezogen, wie sich Cheina stumm vorbetete; sie waren verschwunden, wie Elia wusste, der monatelang um Nachricht bangte, wie an ihrer statt. Was das Begreifen der Geschehnisse anbelangte, war Cheina die Langsamkeit selbst. Sie verzögerte ihren Gedankenfluss und brachte ihn, wenn ihr eine Sache unangenehm wurde und ihre Finger nervös über die Tischplatte hüpften, zum Stillstand. Wenn sie etwas nicht begreifen wollte, führte kein Weg zu ihr hin, weil kein Weg jemals bei ihr anlangte.
     
    Aber damals hatte seine Cheina auf ihre stille Art alle überholt. Kaum hatte er sie gefragt, war sie auch schon schwanger, er hätte nie gedacht, dass das so schnell gehen könnte, und gesagt hatte sie auch das keinem. Er wusste nicht einmal, ob sie sich ihres Zustandes selber bewusst gewesen war, sie redete ja nicht. Nur das Nötigste. Wo ist mein Geigenkasten? Wo hast du die Notenblätter hingetan? Nein, danke, ich übe noch. Viel mehr war aus dieser Kostbarkeit nicht herauszuzwingen. Elia hatte bald bemerkt, dass sie es schätzte, wenn er sie nicht mit unnötigen Gesprächen belästigte.Wozu sollte sie auch reden? Ihre Gravitation wirkte ohne Worte.
    Was hatte er nicht alles mitgemacht mit ihr, seiner unwiderstehlichen Sirene! Diese überstürzte Hochzeit in ihrem auberginefarbenen Bühnenkostüm mit den türkisen Bändern und den schadhaften Schuhen, nur etwas Lippenstift hatte sie sich bei der Serviertochter abgeschwatzt, darauf hatte sie bestanden. Die sinnliche Kontur ihrer Lippen hatte sie mehrmals nachgezogen, gewissenhaft, selbstversunken. Er hatte sie dabei beobachtet, als er sich selber die schneidige Fliege um den Zelluloidkragen band, der ihn kratzte, und daran, wie ihn die Schuhe gedrückt haben, erinnerte er sich regelmäßig, wenn er an diesen Tag zurückdachte. Und dort, auf der Heiratsurkunde, war das Letzte, was von Rivka und Rahel übriggeblieben war, eine Paraphe von Schwester und Mutter als Trauzeuginnen, Schrift, verdinglichte Bewegung auf Papier.
    Die Tage und Wochen danach waren aber auch nervenaufreibend gewesen. Ein Platz für Cheina musste in seinem eigenen Orchester geschaffen, die Leitung des Gerber Terminus davon überzeugt werden, dass dieses Orchester ein gutes war, und schließlich hatte Elia die gesamte Truppe noch beschwatzt, seiner jungen Angetrauten mit Respekt gegenüberzutreten und sie nicht unnötig mit Worten zu belästigen. Außer über Musik sollte mit ihr über nichts gesprochen werden, schon gar nicht über ihre Herkunft.
    Sie war eine Herausforderung, in jeder Hinsicht. Ihr Spiel duldete keine Verzögerung, jede Synkope musste sitzen; wenn einer der Musiker seinen Part nicht beherrschte, hob sie ihren Geigenbogen zwei Fingerbreit von den Saiten und verharrte so, bis dieser den Einsatz drei-, viermal geübt hatte, dann nickte sie kaum merklich und setzte wieder ein. Offiziell war zwar noch immer Elia Chef d’Orchestre, inoffiziell hatte Cheina aber den Dirigentenstab in dem Momentübernommen, als sie jedem Einzelnen zur Begrüßung die Hand gereicht und ihm dabei knapp neben den Augen tangential am Gesicht vorbeigeschaut hatte. Obwohl man diese Art auch als Ausweichen hätte werten können, empfanden es die Musiker doch alle gleich: Sie waren ihres Blickes nicht würdig. Und sie akzeptierten das ohne Groll.
    So spielten sie also noch eine Saison in Aarau, lebten miteinander, gewöhnten sich aneinander und an die Eigenheiten, die

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