Die Ruhelosen
jeder pflegte, ab und zu lachte man sogar.
Als dann am Weihnachtsabend, ausgerechnet beim großen Gala-Konzert, das sie zur Feier von Jesu Geburt gaben, seine Cheina plötzlich diverse Übergänge verpatzte, aus dem Takt geriet, spürte Elia, wie sich ein Wall von Missmut und Verärgerung in ihm aufbaute. Die Heftigkeit seiner Ablehnung erschreckte ihn, aber er konnte sich nicht halten. Das Zentrum bröckelte, und Elia übernahm das Zepter mit eiserner Hand. Seine Entrüstung über diesen scheinbaren Verrat fand Ausdruck in einer Zurechtweisung, die er seiner Frau, der Ersten Geigerin, mit Blicken zuschmetterte, eine Ausfälligkeit, von der sich Elia nie hätte vorstellen können, dass er sie einmal in aller Öffentlichkeit, vor Publikum, ausleben würde. Aber dass seine Frau ihre konzertante Stimme so schlecht beherrschte, sie, die unantastbare Perfektion aller Violinsonaten, des Streichsextetts, Königin aller Rhapsodien, Dirigentin der Gefühlsklaviatur, die das Publikum mitsamt Musikerschaft die Tonleiter der Emotionen ihrem Willen nach auf- und abjagte, war mit einem Male so unzulänglich, so unerträglich durchschnittlich, schlecht, und noch ehe er sich’s versah, brach sie das Stück – Au Claire de la Lune – sogar ab, brach zusammen, lag da in stillem Krampf, die Geige und den Bogen in der Hand, und wimmerte rau.
Bestürzt schleiften sie die Musiker hinter die Bühne, wo sie sich nicht zu helfen wussten. Elia trat vor den Vorhangund entschuldigte die kurze Unterbrechung, dann kam er nach hinten, ein Blick auf seine Frau genügte, und er wusste, dass sie in Wehen lag. Umsichtig koordinierte er die Musiker: »Du und du, ihr geht nach vorne und spielt ein paar Polkas; du informierst die Wirtin, man möge nach einem Arzt schicken, und du und du, ihr beschafft so viel abgekochtes Wasser und Frottiertücher, wie ihr beschaffen könnt in diesem Haus, los!«
Und so kam in Aarau zu Weihnachten 1917 um zweiundzwanzig Uhr zwanzig bei einer Kälte von minus 2,6 Grad und Schnee in der Luft der gesunde Junge Abel Lazzaro Israël zur Welt, hineingespült auf einen Orchesterboden, von fröhlichen Polkaklängen umgeben, von der Mutter mit kaum einem Blick bedacht und vom Vater hochgehoben und emporgehalten wie eine Trophäe.
Zwei Tage darauf fand Cheina im Aargauer Tagblatt die folgende Annoncierung:
Haus-Kapelle Hotel Gerber Terminus
Familien Abend
1. Stock, großer Saal
Konzert
Sonntag, den 30. Dezbr. 11–12, 3 ½ - 6 ½, 8–11 Uhr
Silvester 8–11 Uhr
Neujahr 11–12, 3 ½ - 6 ½, 8–11 Uhr
Berchtoldstag 3 ½ - 6 ½, 8–11 Uhr
Und darunter, kleingedruckt, aber nicht weniger bedeutsam:
P. P. Ich benütze die Gelegenheit, unsern werten Gönnern von Aarau und Umgebung die Mitteilung zu machen, dass die beliebte Künstlerin Cheina M. Israël am Weihnachtstag einen gesunden Buben zur Welt gebracht hat. Mutter und Kind sind munter.
Schräg daneben erhaschte ihr an Kurzmeldungen geübter Blick die Leichen-Anzeige Nr. 103:
Montag, den 24. Dezember
1917 starb: Oberstkorpskommandant Fahrländer, Johann, Ingenieur, von Aarau. Alter: 73 Jahre, 4 Monate, 19 Tage. Stille Beerdigung.
Da war er also wieder, des Schweizers Zählzwang. Auf Stund und Minute zurückgedrängte Emotionalität. Dieser Tick, alles, was bewegte, pingelig genau festhalten zu wollen. Es gäbe dann einfach weniger Diskussionen, hatte ihr einmal Elia geantwortet. Mit wem denn, hatte sie gedacht, wenn sie alle so sind.
Elias Mutter, Abelarda, hatte es sich nicht nehmen lassen, umgehend in die Schweiz zu reisen, um den Kleinen kennenzulernen. Sie ging mit auf Tournee, man spielte damals auch in Genf und in Montreux, und mit einem gewissen Missfallen nahm Abelarda wahr, wie sich aus ihrem einstigen Abenteurersohn ein kleiner Familiendespot entwickelt hatte. Er bestand sogar darauf, dass man auf Spielzeug verzichtete, um das Kind nicht zu verweichlichen. Nichts, das er nicht beherrschte, keine Entscheidung, die er nicht laut und unanfechtbar verkündete, als spräche er durch einen Trichter aus Blech.
Zu Cheina fand sie keinen rechten Draht. Diese Frau kümmerte sich außer um ihre Geige anscheinend um nichts. Natürlich, auch sie hatten damals Bedienstete, aber dass diese russische Jüdin den eigenen Sohn so überhaupt gar nie anfassen wollte, war ja nun doch etwas Erstaunliches, wenn nicht gar Abstoßendes. Aber vielleicht war sie selber auch nur zu sehr zu dem Kinde hingezogen, immerhin hatte Elia ihm ihren Namen, Abel, gegeben. Sie
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