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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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zwei-, dreimal schwang der Mann sein Pochettli durch die Luft, und dann drückte Nunzio das Gaspedal. Die Sekunden, bis er die hundert Meter erreicht hatte, erschienen dem Fahrer des Buick lächerlich lang. Dann drückte auch er auf die Tube. Der Motor seines Wagens hatte einen dunklen, tiefen Klang, das wird den vorlauten Italiener da vorne das Fürchten lehren, dachte der Mann hinter dem Steuer und fühlte den Wagen unter sich beschleunigen und den Abstand zwischen ihm und dem herzigen Hinterteil des Austins sich verringern.
    Nunzio steuerte den Wagen in aller Seelenruhe, die Tempo 32 bedeutete, von der Rosenstraße aus auf der Alten Landstraße in Richtung des Nachbarorts Erlenbach. Zwischen dem Laden des Landwirtschaftlichen Vereins und der großen Scheune, die die Transportfirma Gimpert & Bischof als Lager nutzte, bog er links ab in die Felseneggstraße. Er gab Gas und überquerte nach der scharfen Rechtskurve die Weinmanngasse mit Schmiss.
    Der Buick schoss ihm aufjaulend hinterdrein. Allerdings war sein Fahrer mehr als überrascht über die Route, die sein Vordermann da eingeschlagen hatte. Als Ortskundiger musste doch auch dieser Neuschweizer wissen, dass die Felseneggstraße nach der Aufwärtskurve beim Dorfbach in einer Sackgasse endete. Wie tubelig kann einer sein, der aus dem Süden kommt?
    Aber Nunzio wusste es eben besser. Die Mischung aus Neugier und voreiliger Siegesfreude in seinem Nacken verspürend, lächelte er sein süffiges Lächeln; seine Hände führten fast streichelnd über das Lenkrad, als er den Austin in die Kurve zwang, welche für den Hinterfahrer nichts als einen Irrtum bedeuten musste. Wie konnte ein Autorennen von Küsnacht nach Erlenbach, wo eine Hauptstraße schnurgerade die Seelinie entlang zum Ziel führte, hier oben bei der Sanitärfirma Deco AG, am Eingang des Küsnachter Tobels, schräg unterhalb der Gärtnerei Hermann Hirt, nur zu einem so dummen Ende kommen? War dieser Tschingg von allen guten Geistern verlassen? Stur und blöd und uneinsichtig wie sein Alter?
    Nunzio war’s, als hörte er die Gedanken und Beschimpfungen hinter sich. Er drückte weiterhin aufs Gaspedal und trotzte dem Berg die letzte kurze Strecke ab, auf der der Buick ihm in Nacken sitzen würde. Bald, bald …
    Am Ende der Sackgasse lenkte der Malermeister Senigaglia sein Gefährt durch das kleine Fußgängerweglein RichtungDeco-Brücklein und passierte in seiner ihm eigenen Präzisionsarbeit den Übergang. Auf der anderen Seite hielt er an.
    Der Buickfahrer, dem nun allmählich schwante, was für ein Spiel da gespielt wurde, fühlte, dass er bereits mit Einbiegen in die Felseneggstraße die Wette, und damit seine Ehre!, verloren hatte. Nicht mal bis zum Brücklein schaffte es sein viel zu breiter Schlitten: Er musste sich geschlagen geben. Senigaglia aber drückte den Gummibalg des Stukenbroker Cornets, hornte damit zwei-, dreimal seinen Triumph in die Welt hinaus und fuhr weiter, den kürzesten und direkten Weg nach dem Dorfeinfahrtsschild Erlenbach. Seine rechte Hand winkte noch lange aus dem weißen Kittel zum Fenster hinaus.
     
    69   098 immatrikulierte Fahrzeuge frequentierten damals die Straßen der Schweiz, davon 12   261 diejenigen des Kantons Zürich, aber von allen Fahrzeughaltern war Nunzio an diesem herbstlichen Abend weit und breit der zufriedenste.

was man alles nicht wegdenken kann
    Budapest, 1936
    Budapest, den 10. September 1936
     
    Der schwerste Abschnitt aus meinem jungen Leben! Ich will nun alles, alles niederschreiben. Damit es einmal gesagt ist. Damit, wenn mir etwas zustoßen sollte …, einfach alles gesagt ist, was gesagt sein muss.
    Am 15. März 1936, sieben Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag, ging meine liebe Schwester nach Wengen zur Erholung. Meine liebste Mutter begleitete sie bis Interlaken, um bei Frau Rubi einen Besuch zu machen. Das gefiel dem Vater nicht, dass Mama mitmusste –!
    Nun waren wir allein –!
    Was das bedeutete, weiß nur der liebe Gott, nur er weiß, was geschehen ist.
    Als ich vor dem Mittagessen aus dem Esszimmer kam, trat Vater vom Schlafzimmer auf mich zu, fasste mich bei den Schultern und drückte mich an die Wand und sagte: »Komm, sei doch mein Schatzi, sei doch meine Freundin, so kann ich zwei, drei andere Freundinnen fahrenlassen und bequem bei dir ausspannen.«
    Die englischen Staatsmänner hätten auch ihre Töchter als Freundinnen –! Ich löste mich von ihm los und schrie: »Bist du verrückt!«
    Seit diesem Tag ging es anscheinend

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