Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
Hause noch mitgemacht habe, wie mich Papa auf solch schmutzige Art heruntergeputzt hat, das weiß leider auch nur der liebe Gott! (Und warum hatte ich den Mut nicht, ES zu sagen?)
    Zweimal hörte ich, wie Papa sagte, dass das »cheibe Meitschi« aus dem Haus müsse.
    An einem Mittagstisch mit Mama und Mausi kam ES dann heraus. Denn meine Mutter sagte, dass Papa gesagt habe, dass er nicht den Mut habe, mich zu erschießen –!
    Nun, das konnte ich nicht mehr ertragen, das war zu viel für mich! Habe ich denn etwas verbrochen? Wer ist schuld, dass er mich aus den Augen haben wollte? Nun sagte ich weinend: Aber ich weiß, WARUM all das ist, weil ich nicht seine FREUNDIN werden wollte am 15. März!
    Nun ging der Mutter das ganze Licht auf. Warum hast du das damals nicht sofort gesagt?
    Ich habe nicht den Mut gehabt, von meinem Vater so etwas zu sagen! Ich glaubte, dass er anders werde.
    Meine Mutter begriff nun auch, dass es zwischen Vater und mir nicht mehr gehen konnte. Doch mit Mama und Papa ist es auch aus –!
    Sie wusste nicht, dass ich mir schon lange etwas suchte, da ich ja nun sowieso gezwungen bin, jetzt aus zwei Gründen … Da ich seit Mai weiß, dass ich selber Mutter werde!
    Trotz des großen Unglücks, auf solche Art aus dem Heim meiner Eltern verdammt zu werden, trotzdem bin ich glücklich zu wissen, mit einem Menschen durchs Leben wandern zu können, der keine solchen Verhältnisse kennt.
    Wir werden nach Italien gehen, ich will meine Mutter mitnehmen, erst dann bin ich wieder glücklich und fröhlich, wie ich immer war.
    Am 2. Juli fuhr ich mit Papa und Mama und einem schweren Herzen voller Angst nach Ungarn ins Ungewisse! Niemand braucht zu wissen, wie schwer und doch schön es war –!
    Es ist genug, wenn Mama und ich wissen, wie sehr wir gelitten haben.
    In Sajosenye, an der kleinen Station, war der schwerste Abschied, den ich mir vorstellen kann –! Papa hatte Mutter gegen ihren Willen einfach in den Zug gesteckt und sie wieder nach Hause geschickt.
    Wenn zwei so voneinandergerissen werden wie wir –! Ich wusste ja nicht, was aus mir werden sollte, so außer mir war ich –!
    Immer wieder sagte ich mir, nein, es soll nicht geschehen, ich habe ja nichts verbrochen. Ich will aushalten – denn erst nachher wird es schön werden –!
    Jeder hat auf seinem Gleise etwas, das ihm Kummer macht, nur Gott hat mir immer wieder Kraft gegeben, wenn ich weinte, jetzt ist Schluss –!
    Was ich in Senye gelitten habe, brauche ich nicht zu schreiben.
    Am 8. September verließ ich Senye auf Geheiß des Vaters. Was geschehen würde, wenn mich mein Vater in Budapest abholte, wusste ich nicht.
    Er hat mich halb totgeschlagen. Als er meinen Bauch und die Wahrheit darin erkannte, wusste er sich nicht mehr zu halten.
    Ich schreibe diesen Bericht mit verletztem Herzen, verletzten Händen und verletztem Leib. Sollte mir etwas zustoßen, findet sich hier drin alles, was geschah.

letzte Ehre
    Küsnacht, 1936
    Obwohl das Jahr 1936 ein überaus ereignisreiches Jahr für seine Familie war, und nicht nur für sie, sondern für viele der rund vier Millionen Einwohner, die die Schweiz damals zählte, war der 3. November 1936 doch der bedeutsamste Tag für Nunzio junior, den damals erst vier Jahre alten erstgeborenen Sohn des Malermeisters Nunzio Senigaglia und seiner rothaarigen Frau Alda: Es war nämlich der Tag, an dem er seine erste bewusste Erinnerung anlegte.
    Ohne dass seine Eltern Kenntnis davon hatten, stahl sich der gewitzte Bub aus dem Haus und wanderte furchtlos über die Geleise, dem Hause seiner Nonna zu. Die fand er, neuerdings mit Brille und mit zu einem Bürzeli zusammengebundenem Haar, draußen vor ihrem Comestibles die Auslage sortieren. Äpfel, Feigen, Nüsse, Marroni, Tomaten und Datteln in geflochtenen Spankörbchen unterschiedlicher Größe, auf dem Fenstersims sieben Fläschchen Schnaps, abgepackte Kaffeebohnen, die sie im Migros-Wagen besorgt hatte und für ein paar Rappen teurer weiterverkaufen wollte. Ein Handel, an dem sie mittlerweile ihren Gefallen gefunden hatte. Im Fenster stand ein irdener Topf mit späten Margeriten, umrahmt von Werbeplakaten, die die Schweizer Berge als Erholungsparadies priesen, und rechts von der Eingangstüre ein großes Emailleschild, das mit einem Adler für Tobler, die
echte Schweizer Milch-Chocolade
, warb. Im Weiteren erblickte Nunzios geübtes Auge die von ihm heißgeliebten Weichkäsedreicke der Käserei Gerber und – vorsorglich für die kalte Jahreszeit eingekaufte

Weitere Kostenlose Bücher