Die Ruhelosen
in ein weißes langes Hemd gesteckt, sein Schnauzer gezwirbelt, das Gesicht gepudert und die Haare nach hinten frisiert. Jemand schloss die Fensterläden, ließ aber einen Fensterflügel offen, so dass kühle Luft hereinwehte und an den Laken zupfte.
Eine Stimme sagte: »So«, und als ob dies das abschließende Signal gewesen wäre, auf das alle in unausgesprochener Übereinkunft gewartet hatten, kamen nun reihenweise Menschen in des Großvaters Schlafgemach paradiert und erwiesen ihm die letzte Ehre. Die gemurmelten Gebete drangen in Nunzios Ohren und tanzten verwirrende Figuretten.
Drei Tage später fand das Leichengeleit durch Küsnacht statt. Zwei Apfelschimmel, die man extra aus Erlenbach herbeigeführt hatte, zogen den schweren, traurigen Wagen mit dem Eichenholzsarg, in dem sein Nonno lag, dorfauf und dorfab. Links und rechts der Geleise blieben die Leute stehen, sprachen ein kurzes Gebet oder, je nach Glauben, bekreuzigten sich. Nunzio nahm mit Genugtuung zur Kenntnis,dass sein Nonno eine wohlgelittene Größe vor Ort war und dass sich Frauen und Männer um Comsola drängten, ihr die Hand für ein aufmunterndes Wort zu schütteln. Und Nunzio hörte zu, wie sein Vater, Nunzio senior, Malermeister zu Küsnacht, mit seinen Brüdern und der Schwester beratschlagte. Als Enterbter hatte er keine ererbten Schulden zu befürchten, da mussten seine Geschwister ganz schön zusammenlegen, um wenigstens einen Teil des Zwillingshauses an der Dorfstraße halten zu können, wenn man den Falken schon abstoßen musste. Einzig die Jagdschulden übernahm Nunzio senior und nahm damit den Platz seines verstorbenen Vaters in der dörflichen Jagdgesellschaft ein.
Für Comsola wurde vereinbart, dass jedes ihrer Kinder pro Monat einen angebrachten Batzen für sie auf die Seite tat, den sie sich Woche für Woche reihum abholen kommen sollte.
Der Einfachheit halber, und um dazuzuschauen, dass fortan das Geld im eigenen Haushalt bliebe, zogen Senigaglias in ihre alte Wohnung an der Dorfstraße zurück.
Nunzio junior half seinem Vater dabei, die Farbtöpfe im Keller wieder aufzuschichten und in Reih und Glied zu stellen, so dass bald alles seine alte Ordnung hatte. So dass das Leben weitergehen und das Schicksal seinen Lauf nehmen konnte. Nunzio junior registrierte dies alles fein säuberlich in seiner inneren Chronik.
An einem Abend, nicht lang nach Guerrinos Beerdigung, hörte er, wie sein Vater zur Mutter sagte: »Jetzt, Alda, jetzt erst sind wir richtig Schweizer geworden. Jetzt, mit dem ersten Senigaglia unter der Erde, ist dieser Boden auch unser Daheim.«
Loch im Hals
Bern, 1939
Nachträglich war es beinahe unmöglich, den Hergang, den die Geschichte genommen hatte, zu rekonstruieren. Die Dinge gerieten durcheinander, fielen wie Äpfel und Birnen und Zwetschgen zu Boden und vermengten sich dort zu Mus.
In Zürich feierte man die Landesausstellung. Eine Schwebebahn führte von der einen Seite des Sees auf die andere, es gab neue Schiffsverbindungen und viele, viele Sehenswürdigkeiten; eine Trudi Gerster erzählte den Kindern im Kinderparadies Märchen, und auch für die Großen war gesorgt: Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, Speiseeis – aber all das blieb für Mondaine und Mausi nur Hörensagen, die Zeit hatte für sie nicht mehr gereicht, nach Zürich zu fahren und dabei zu sein. Sie waren in Bern in ihrem eigenen schicksalhaften Karussell gefangen, und das drehte sich mit einem Male schwindelerregend schnell, schwindelerregend laut und alles durcheinanderbringend, so dass man hernach nicht mehr genau sagen konnte, was denn nun zuerst kam, das Leben oder der Tod, die Liebe oder der Verrat.
Richtig war, dass Mausi unter Liebeskummer gelitten hatte. Erwiesen war auch, dass sich bei ihr am Hals ein Lymphdrüsengeschwulst gebildet hatte. Ob das nun in direktem Zusammenhang stand mit jener Nacht, in der Mausi erst um elf mit ihrem halb geduldeten Freund nach Hause gekommen war, mit jenem Elf-Uhr-Gutenachtkuss also, den dieser ihr auf den herzförmig bemalten Amorbogen drückte und der von der Tante aus Paris, der wiedergefundenenSchwester Mauritzias, Lina, beobachtet und lauthals kommentiert worden war, ob es also mit dem Geschrei, das danach angehoben hatte, dem Skandal, den die Tante über diese kleine zärtliche Tändelei losgelassen hatte, in Zusammenhang stand, wusste Mondaine nicht mehr zu sagen. Das war eines der Dinge, die ihr Mal für Mal entglitten und zu Boden fielen, zu Mus und Brei verkamen, klebrig und
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