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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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wüst.
    Sie wusste es nicht, aber sie glaubte fest, dass es irgendetwas damit zu tun gehabt haben musste, dass ihre Schwester so schwer krank geworden war, weil dieser Halbgeduldete, dieser falsche Galan, die Schwester daraufhin, nach dieser einen lauten Szene, so schnöd im Stich gelassen und vom Hause Schön Abstand genommen hatte und Abstand wahrte, egal, wie sehr die Mausi daran litt, egal, ob da eine Geschwulst wucherte in ihrem Hals, und die Drüsen schwollen vor lauter ungeweinter Tränen.
     
    Vielleicht aber war auch alles anders gewesen und hatte vielmehr mit ihr zu tun, Mondaine, der betörend schönen Mondaine, Mondaine Augenstern, die einen Ausschlag bekommen hatte, urplötzlich, um das Jahr 36 herum muss das gewesen sein, die ersten Pusteln, der erste Abszess im Gesicht, und mit den Bestrahlungen, die sie über sich hatte ergehen lassen müssen, auf die man ja alles setzte, die Röntgenstrahlen aus dem neuen Wunderapparat der Forscherzeit; oder mit dem Arzt, der Mondaine ausdauernd verzuckerte Briefe geschrieben hatte … Mondaine konnte die Dinge nicht fassen, waren es die Briefe, war es das Drama mit dem Vater, die junge Mutterschaft oder war es die Tiefe der Bestrahlung, die die Unreinheiten unter ihrer Haut wuchern ließ, die diese dicken Eiterdinger animierten, weiterzuwachsen und aufzuplatzen? War sie der Grund allen Unheils gewesen, weil sie den Vater zurückgewiesen hatte?Hätte sie das alles verhindern können, wenn sie das Joch angenommen, getragen hätte? Oder war es doch Mausi, Mausis Schicksal allein, gottgewollt, dass sie fast zeitgleich so krank geworden war? Sie, die ihr als Einzige bei ihrer Rückkehr aus Ungarn vor drei Jahren beide Hände entgegengehalten hatte, gelacht hatte und gesagt hatte: Ja nu, dann stricken wir jetzt eben Strampler.
     
    Und derselbe Arzt, der bei Mondaine Briefchen in den Ausschnitt zu schieben versucht hatte, hatte Schöns diesen Kollegen empfohlen, diesen ganz versierten Fachmann auf dem Gebiete des Krebses. Krebs, nur dieses Wort genügte, um bei Mondaine alle Erinnerungen durcheinanderzuwirbeln und die Bilder herunterpurzeln zu lassen, aus ihren Händen, zu Boden, zu Mus.
    Und der dann! Schneidet bei Mausi die Lymphdrüsen auf, um da reinzuschauen! Man stelle sich vor! Um! Da! Reinzuschauen!
    Und war es nicht auch zeitgleich, dass im Chemiekurs, den Mondaine damals besucht hatte, um neue Haarfärbungen zu erlernen, ein Kunde neben ihr saß, ein gewisser Aebi, einer, der in Schönheitssachen für Kranke machte oder so und der sie aufmerksam angeschaut hatte, ohne Neugier, aber mit viel Mitgefühl, und der ihr da, doch, sie erinnerte sich genau, gesagt hatte: Fräulein Schön, obwohl sie bereits Frau Ciccioriccio war, bei Ciccioriccios wohnte, durch Heirat Italienerin geworden war, durch Heirat das Schweizer Bürgerrecht und beinahe alles verloren hatte und als Pinos Frau nun Bürgerin eines Landes war, das sie nicht kannte, das ihr den Mann aber kurze Zeit später bereits abberufen und eingezogen und nach Abessinien geschickt hatte, und wo lag das überhaupt?,
Fräulein Schön
also, das war eine glasklare Stimme in ihrem Ohr,
was machen Sie dagegen, welche Behandlung?
Und dann hatteer gesagt,
hören Sie auf zu bestrahlen, hören Sie sofort damit auf, und kommen Sie morgen zu mir!
     
    Hatte irgendjemand zu Mausi gesagt, ihr Arzt solle mit dem Aufschneiden aufhören? Hatte ein Arzt zum anderen Arzt gesagt: Lass die Finger davon, Geschwulste schneidet man nicht einfach so auf, auch wenn die Neugier dich treibt, man tut es nicht?
Aber man hatte Mausis Hals aufgeschnitten! Man hatte sie bestrahlt,
ein Doktor Liechti, einer der Ersten, der diese Behandlung in der Schweiz überhaupt durchführte, höchstpersönlich hatte sie bestrahlt! Und dann hatte der die Aufgabe irgendeiner Angestellten, einer technischen Assistentin, übertragen, die davon doch noch überhaupt keine Ahnung haben konnte!
Und die hat meine Schwester unter dem Apparat vergessen! Einfach vergessen! Ging ein Butterbrot essen und dachte nicht mehr daran, dass da ein junges Fräulein lag, ein mausgraues, von Herzenskummer halb zerfressenes, meine Schwester – da ist alles verbrannt in ihr drin! Blutzersetzung hätte das geben können, ach, komm, komm …!
    Man hatte ihr eine hohe Dosis geben müssen. Um bei Mausi in eine Tiefe von zwei bis drei oder auch dreieinhalb Zentimetern zu gelangen, musste man nach Wirkung bestrahlen,
man wusste ja nicht, wie hoch oder tief eine Dosis zu sein hatte, damit

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