Die Ruhelosen
– Grether’s Pastillen.
»Nonna! Sono io!«, sagte er und zupfte an ihrem Rock.
»Nunzio, carino!«
Comsola beugte sich zu ihm hinab und drückte ihm einen heißen Kuss aufs Blondhaar. Aus ihrer Schürze klaubte sie ein Caramel, das Nunzio grinsend in den Mund steckte. Es zerfloss zwischen Zunge und Gaumen und machte aus seinen kleinen Milchzähnlein süße Festungen, gegen die er anlutschte.
Noch bevor ihn seine Nonna über die Eltern aushorchen konnte, noch bevor sie ihm dazu eine Tasse heiße Milchschokolade bereiten konnte, ja, noch bevor sie ihn überhaupt zum Zwecke des Ringsumfragens an ihrem Rockzipfel hineinleiten konnte in ihr kleines Königreich in Küsnachts Dorfstraße, kam das, was der Anfang von Nunzios innerer Bilderaufzeichnung sein sollte. Er sah es schon von weitem, er sah es, und ohne zu wissen, was es war, wusste er, dass es etwas war, das ihm galt, ihm und den Seinen, seinem Davor und seinem Danach, und er spürte, dass mit diesem Wissen in ihrer aller Leben etwas unwiederbringlich in die Brüche gegangen war. Zuerst erkannte er seinen Götti Hans. Die schweren, lauten Wanderschuhe mit den zweifarbigen Schuhbändeln, die dunkelgrauen Wollsocken, die er wie Gamaschen über die Hose bis an die Knie heran hochgezogen hatte, die geknöpfte Weste über dem weißen Hemd, der Staubmantel und der schiefe Hut, der breite Lederriemen über der Schulter: Götti Hans in voller Jagdmontur. Neben ihm ging einer seiner Söhne, und sie gingen in einem seltsamen Gleichschritt, der hier nicht hingehörte, nicht passte, wie sie da an der Spitze eines stummen Grüppchens Männer die Dorfstraße herunterschritten, und das Nächste, dass die Hunde ungestraft jaulten und winselten, und dann wiederum das Nächste, was nicht passte, war, dass die Jägersleut nicht wie üblich mit einem Böckli oder zweien geschultert daherkamen, sondern mit etwas Gstabigem,etwas Dunklem, Ungelenkem, und erst, als er seine Nonna einen gellenden Schrei tun hörte, erkannte er, dass sein Götti und drei andere Männer eine schlecht zusammengebundene Bahre auf ihren Schultern trugen, auf der ein Mann lag, zugedeckt von einer Jägerjacke, einer, dem es gar nicht mehr gutging, und je näher sie kamen, desto besser erkannte Nunzio nun auch ihre Gesichter, jedes einzeln, und ahnte darin das eine Gesicht, das in dieser Truppe fehlte. Die Bestürzung, die in den Augen derer lag, die da herunterkamen durch das Dorf und am Gasthof Ochsen vorbei, und der gläserne Blick jenes einzelnen Mannes, der hinterdreingestolpert kam und ganz ohne den üblichen Jägerstolz ein Böckli, an den Sprunggelenken zusammengeknotet, geschultert durchs Dorf schleppte, fast so, als schäme er sich dafür, war falsch, falsch für einen erfolgreichen Tag der Jagd, und als die Männer vor Comsola stehenblieben und die Köpfe brustwärts sanken, fiel wie zum Zeichen einer stummen Bestätigung eine Hand unter der Jackenabdeckung hervor und baumelte von der Bahre, und nun sah Nunzio auch, dass dies die Hand seines Nonnos war, die da ziellos pendelte und nichts anderes sagte als: Vorbei, vorbei. Passato, vorbei.
»Wie ist das geschehen?«, hörte Nunzio seine Nonna den Hans stimmlos fragen.
»Guerrino. Er hat sich so gefreut, als er das junge Böckli geschossen hat, dass sein Herz einen Schlag davon bekam. Er …, wir haben alles versucht …, er kam nicht mehr zu Bewusstsein. Er ist tot, Comsola. Guerrino ist gestorben.«
Was folgte, war der längste Schrei, den Nunzio je aus dem Munde eines Menschen hörte und je hören sollte. Seine Nonna fiel zu Boden und schrie: »No«, als wollte sie nie, nie wieder aufhören zu schreien. Einer der Bahrenträger übergab seine Last dem zweiten und eilte zu ihr hin, hielt sie um die Schultern, die heftig bebten, hielt sie davon ab,nebst den Fäusten auch das Gesicht auf den Straßenboden zu werfen.
»Comsola. Comsola, komm, wir müssen nach oben gehen, ihm das Totenbett richten.«
Nunzio spürte es ganz genau, er war plötzlich nicht mehr vorhanden, keiner sah ihn, keiner nahm Notiz, als er den stillen Männern hinterher die Treppe nach oben stieg und alles beobachtete, was weiter geschah. Er war ein nicht vorhandender Anwesender geworden, ein stummer Chronist der Geschehnisse.
Seinem Nonno wurde das Totenbett gerichtet, eine hohe weiße Kerze zu jeder Seite. Die Kleider wurden ihm ausgezogen, irgendeine Frau kam ihn waschen mit Krug, Schale und Waschblätz, derweil sich eine andere um Comsola kümmerte. Dann wurde sein Nonno
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