Die Ruhelosen
geworden daraufhin. Husten, Händeringen, Blutgeschliere, Eis und Mus.
Das Leichenauto hatte Mausis Körper im Sarg hinuntertransportiert nach Bern. Mondaine und die Mutter waren mit dem Zug zurückgefahren. In Ostermundigen wurde Margit
Mausi
Schöns Leichnam beigesetzt. Damals hatte man schon aufgehört, von ihr zu sprechen. Mondaines Ausschlag war zurückgekehrt, das glaubte sie noch zu wissen, aber in ihrer Familie hatte man einfach nicht mehr darüber gesprochen. Als Mausi tot war, war sie eben tot, da hatte man geschwiegen. Mondaine hörte zwar, wie der Vater herumposaunte, die Seele des Geschäftes sei verstorben, die Seele! Aber noch am Tag ihres Begräbnisses war der Vater abends wieder hinter dem Tresen gestanden und hatte die Leute bedient.
Mondaine war darüber fast wahnsinnig geworden.
Aber vielleicht war das auch später gewesen. Oder früher. Die Erinnerungen glitten ihr einzeln durch die Finger ihrer Hand und ließen sich nicht fassen. Äpfel, Birnen. Zwetschgen.
Als am 1. September deutsche Truppen in Polen einmarschierten und in Europa am Ende der 1930er Jahre der Zweite Weltkrieg ausbrach, Mondaines Vater böse blickend die eigenen Bestände prüfte und unheilvolle Berechnungen anstellte, stand plötzlich Mondaine mit ihrem Büblein Massimo Leonardo im Arm vor ihm und sagte: »Ich hab’s, ich weiß es jetzt wieder: Meine Schwester Margit ist der erste und der einzige bekannte Fall in der Schweiz, der je unter den Folgen der Strahlenkrankheit gelitten hat. Sie hat zwei Jahre damit gelebt. Dann ist sie gestorben.«
Bier, Brot und Beromünster
Küsnacht, 1941
Nunzio Amadeos Eltern hatten sich also schon von früh an als Migrolianer verstanden. Sie hatten auf Gottlieb Duttweiler gehört, den Revolutionär der Mengeneinheiten, den Belieferer der Kunden unter Verzicht auf Zwischenhändler. Hatten in seinem Migros-Wagen eingekauft in Kilo- und Halbkilosäcken. Und als Dutti, wie sie ihn schelmisch vertraut nannten, verkünden ließ, einem jeden braven Schweizer Haushalt stehe ein Notvorrat gut an, hatten sie auch den angelegt. Die Kellertablare geräumt und anstelle von alten Lattenskiern Dosen und Päckchen gestapelt, Mehl und Zucker und Hirse und Schrot, und die Kartoffeln aufs Hurdeli gebeigt. Senigaglias waren eine aufmerksame Familie, eine, die die Zeichen der Zeit gewissenhaft verfolgte und für sich zu deuten wusste.
Bereits gegen Ende des Jahres 38 hatte Nunzio Senigaglia senior zwanzig Fässer Leinöl gekauft und sie im Keller der katholischen Kirche gelagert, nachdem er von einem Ausflug nach Konstanz mit zwei, drei Büchlein über Hitler zurückgekehrt war, die alles andere als beruhigend waren. Die politischen Verhältnisse verheikelten sich, und er hatte beschlossen, fortan doppelt schlau zu sein und vorzusorgen. Manch einer mochte über sein Tun gelacht haben, er aber lächelte in sich hinein und vertraute ganz auf seinen Verstand.
Und so kam es, dass Nunzio Senigaglia auch in den Kriegsjahren als einziger Maler am Platz über einen entscheidenden Konkurrenzvorteil verfügte, konnte er doch für jeglicheAußenarbeiten sich und sein gutes Leinöl anbieten. Als Eidgenössisch diplomierter Malermeister wusste er, dass dieses extrem dauerhafte gelbliche Öl mit einer Prise Pigment vermischt eine sehr gute Farbe ergab, die nicht einfach dadurch trocknete, dass sie Feuchtigkeit abgab und das Lösungsmittel verdunstete. Nein, im Leinöl fand ein chemischer Umwandlungsprozess statt, sobald es Sauerstoff atmete, der es zu einer zähen Haut machte, die, einmal fachgerecht über Holz und Stein und Metall gezogen, äußerst wetterbeständig allen Unbilden trotzte. Und Unbilden waren dieser Tage ja genug. Morgen für Morgen ging Nunzio Senigaglia von Tür zu Tür, klopfte, bot sich an und werkelte an Nachbars Häusern, wo immer es etwas zu werkeln gab. Zu einem fairen Preis, der dennoch gut berechnet war, ging man einmal davon aus, dass der Duttweiler-Nachahmer in seiner einzigartigen Leinöleinkaufsaktion durch die ungeheure Menge, die er erstand, einen rechten Rabatt hatte aushandeln können.
Dennoch spürten natürlich auch Senigaglias, dass Krieg war. Nunzio Amadeo sprach in der Schule mit seinen Klassenkameraden über nichts anderes mehr. Man tauschte die Nachrichtenfetzen, was man hier und dort so aufgeschnappt hatte, wie Ware untereinander aus.
Senigaglias hatten von Aldas Eltern vor gut zehn Jahren eine Art Radio geschenkt bekommen, über das sie den Telefonrundspruch empfangen
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