Die Ruhelosen
konnten. Eine Einrichtung der Schweizerischen Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe, PTT, die damit ihre Leitungen besser nutzen wollten und sich mit den Abonnements einen Zustupf verdienten. Gestartet hatte man mit einem Niederfrequenztelefonrundspruch, über den sich einzelne Landessender empfangen ließen, Beromünster, Monte Ceneri, Sottens. Solange der Telefonhörer auf dem Apparat ruhte, dudelte das Radio. Kam ein Anruf herein, hörte man das übers Radio und hobeinfach den Hörer ab. Der kleine Nunzio Amadeo hatte es sich von Beginn weg zum Hobby gemacht, erfundene Reportagen in die Muschel des Telefonhörers zu plappern, welche auf geheimnisvolle Weise aus dem Lautsprecher des Radios in die Stube der Senigaglias an der Dorfstraße in Küsnacht drangen. Seine bislang wichtigste Reportage war die von der Weltmeisterschaft 1938 gewesen, als sein Onkel Severino an einem schönen Junitag im Pariser Parc des Princes mit der Nationalelf nach einem fatalen Eigentor und einem zu Recht kassierten 0:2 hinten stand. Nach der ersten Halbzeit kämpfte die Mannschaft seines Onkels eine Weile lang sogar nur zu zehnt, und es sah alles andere als gut aus. Aber die kleine Schweiz gab nicht auf, und wie durch ein Wunder mobilisierten die Spieler neue Kräfte und holten zum 1:2 und 2:2 auf, bis sie nicht mehr zu bremsen waren und ihr 4:2 im frenetischen Jubel des Publikums unterging. In Nunzio Amadeos Sportberichterstattung war es Severino Senigaglia allein gewesen, der alle vier Tore geschossen und damit das Großdeutsche Reich in die Knie gezwungen hatte. Diese »Sondersendung« lief im Juni, im Juli und bis in den späten August des Jahres 1938 hinein zum großen Erstaunen seines Schwesterleins, die mit offenem Mündchen den Lautsprecher anstarrte und zwischen ihm und dem Bruder hin- und herstolperte.
Ein gänzlich anderes Bild bot die Familie Senigaglia am ersten Septembertag 1939. Damals kündete auf Radio Beromünster schweres, dunkles Glockengeläut Unheimliches an, und Bundesrat Philipp Etter sprach:
Der Bundesrat ist entschlossen, die aus der Neutralität des Landes sich ergebenden Pflichten in jeder Situation und mit allen Mitteln zu erfüllen. Im Hinblick darauf, dass die Kriegsmobilmachung in unseren Nachbarländern schon weitgehend fortgeschritten ist, könnte der Bundesrat die Verantwortung dafür nicht übernehmen, unsere Grenzen ohne verstärkten Grenzschutz
zu lassen. Er hat deshalb heute beschlossen, ein Aufgebot für die gesamten Grenzschutztruppen zu erlassen.
Und auch später blieben die Mienen der Zuhörenden verdüstert, wenn sie sich am Freitagabend zur besten Sendezeit für die Weltchronik, regelmäßige militärpolitische Lageberichte eines Herrn Professor Jean Rodolphe von Salis, dicht um das Radio gruppierten und mit angehaltenem Atem lauschten, Vati Senigaglia, Mutter Alda mit Baby Guido im Arm, Nunzio Amadeo und Carla eng angelehnt an Mutters Brust.
Seit fast einem Jahr sendete der Telefonrundspruch nun endlich auf Hochfrequenz, und kein Anruf konnte mehr eine Sendung unterbrechen, wenn man im Hause Senigaglia Beromünster hörte. Über Radio Beromünster erfuhr man alles. Auf Beromünster war Verlass.
Über den »Plan Wahlen« wurde besonders ausführlich berichtet. Die Idee, in der Schweiz zu hundert Prozent auf Selbstversorgung umzusteigen, geisterte aus dem Radio und in die Haushalte hinein. Folgende Grundforderungen hatte Friedrich Traugott Wahlen, der Chef der Abteilung für landwirtschaftliche Produktion und Hauswirtschaft im Eidgenössischen Kriegsernährungsamt, an seine Mitbürgerinnen und Mitbürger gestellt:
Erstens – eine sparsame Bewirtschaftung aller Vorräte. Diese Haltung konnte bei einem Nunzio Senigaglia nur auf offene Ohren stoßen, er und seine Frau waren sich eins darin, dass nur, wer den Rappen ehrt, des Frankens wert war, zweitens – Ausnützung aller Ressourcen im Anbau. Nicht nur auf der Zürcher Sechseläutenwiese, auf der alljährlich der Böögg verbrannt wurde, sollten demnächst Kartoffeläcker entstehen, sondern überall, wo noch ein Fleckchen Land unberührt war, hatte man die Erde zu diesem Zwecke umzugraben. Aha. Die Fußballfelder auch? Drittens – Wiederverwertung der Ressourcen; und viertens– organisierter Einsatz der Produktionsmittel wie der menschlichen Arbeitskraft unter – wie es Wahlen wörtlich nannte –
rücksichtsloser Einschränkung aller nicht lebenswichtigen Tätigkeiten.
Die Anbauschlacht hatte begonnen.
An diesem Samstag im Februar
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