Die Ruhelosen
Gesicht lichtete sich auf.
»Boolkhent war das wohl gewesen, Willkommen. Boolkhent. Si, si, weite Wege sind wir gegangen, weite Wege, das war schon immer so. Aus dem Deutschen sind wir gekommen und in langen Märschen über die Alpen gestiegen bis ins schöne warme helle Vallonara hinein.«
»Wenn nur der Deutsche heute auf seinem Wege nicht zu weit wandert. Wenn er nur keinen Halt macht in der Schweiz!«
»Wie die dann wohl sagen würden?«
»Was meinst?«
»Na ja, im Ersten Weltkrieg war’s ja deutsche Propaganda, laut singend und johlend durch die Städte und über die Felder zu ziehen, weißt’ nicht mehr?
Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit, jeder Klapps ein Japs.
Was wird er da zum Schweizer sagen? Schweizer, Schweizer, Ofenheizer?«
»
Serbien muss sterbien
, das sagte der Deutsche damals auch.«
Der Deutsche. Deu-tsche.
Für Nunzio klangen diese beiden geflüsterten Silben wie etwas, das nur die Erwachsenen sagen durften, etwas, das ihm auszusprechen gänzlich verboten war. Bei seinen gelegentlichen Radiospielen, die er dann und wann zur Belustigung der kleinen Geschwister betrieb, betonte er salbungsvoll und mit Beschwörungszauber das verbotene Wort, als wär’s ein Schlüssel zu einem geheimen Schloss: »… und wieder musste
TEM-TEU-TSCHEN -ZUM-TROTZ
ein Fußballfeld in eine Ackerscholle umgewandelt werden. Der Schweizer Nationalspieler Severino Senigaglia bedauert diese Notwendigkeit zutiefst und hängt sein Trikot an den Nagel …«
»Nunzio! Was träumst du! Geh, hol die Tulpengläser aus der Küche. Die Männer haben schwer gearbeitet. Heute wollen wir die Flasche Bier öffnen, die wir so lange aufgespart haben.«
die große Freiheit
Schweiz, 1941–1944
Mondaine begrüßte das Neue. Vielleicht würde ja alles wieder gut mit diesem Wechsel. Von ihrem Mann, der noch immer irgendwo an einer italienischen Front war, hörte sie kaum mehr etwas; den Sohn Massimo, mit dem sie nicht viel anzufangen wusste, hatte sie in Oberbalm bei guten Kunden ihres Vaters in einer Stätte für illegitime Kinder untergebracht, ihr Leben plätscherte zwischen Leere und angestrengter Aufregung hin und her, und als ihre Eltern beschlossen, ins Kirchenfeld umzuziehen, damit der Vater zu etwas mehr Bewegung käme, immer nur treppauf und treppab war einfach viel zu wenig Aktivität für seinen Bauch, der die Jacken und Joppen strapazierte, und man sie fragte, ob sie nicht wieder zurück zu ihnen ziehen wolle, tat sie das ihrer Mutter zuliebe. In der Nähe des Dählhölzlis wohnten sie inmitten des schönsten Vogelgezwitschers, das sich aus dem hohen, alten Baumbestand himmelwärts erhob.
Dieser Umzug beflügelte Mondaine, fünfundzwanzigjährig, Mutter eines kleinen Jungen, wohnhaft bei den Eltern, ehemannlos. Schwesterlos. Bruderlos; Franz Mauritz Schön war in Südfrankreich geblieben und würde wohl auch nicht mehr zurückkehren. Aber genau an diese Einsamkeit versuchte sie nicht zu denken, als sie zusammen mit ihrer neuen Freundin Elsie, einer Schönheitspflegerin, die sie im Chemiekurs kennengelernt hatte, über deren Idee sprach, abends noch ins Bellevue Palace zu gehen. Elsie schwärmte von einem Ensemble, das ein Konzert gebenwürde. »Ein neues Orchester, Mondaine, einfach ganz außergewöhnlich! Sie haben schon einmal hier gespielt und alles Bisherige nur so weggefegt. Man las davon auch in der Presse.«
Auch für Mondaine war ein gutes Orchester das Nonplusultra. Sie liebte es, sich mit Klängen beduseln zu lassen, Musik war ihr oft wie ein kleiner Schwips. Gleichzeitig aber schämte sie sich für die Pusteln in ihrem Gesicht; sie wollte sich so gern jung und schön fühlen. Denn das war es doch, was sie eigentlich war, jung und schön. Jedermann verglich sie mit der amerikanischen Schauspielerin Rita Hayworth. Und da seit neuestem ohnehin die Stars und Starlets aus Amerika in der Mode den Ton angaben, trug sie seit einer Woche ihr blondes Haar in großen Wellen und Rollen genau wie diese Hayworth. Ihre Fingernägel waren rosenrot gefärbt und spitz zulaufend, ihr Mund karmesin, der Schleier ihres roten Hütchens aus einem Stück hauchrosa Tüll, die Nadel geschickt unter den weißen Stoffblumen, die lustig von der Krempe baumelten, festgepinnt. Obwohl so die Eiterpickel versteckt waren, brauchte es Mut, sich unter dem Licht der Kristalllüster des Bellevue zu präsentieren.
»Ich wäre eigentlich lieber ins Kinotheater gegangen.«
»Dann komm doch einfach nach, ich
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