Die Ruhelosen
hatte, schmilzt und außer einer übelriechenden Masse nichts von ihr übrigbleibt, schickt ihr die Maman eine neue. Eine teure, feine, aus Biskuitporzellan. Aber Emma mag sie nicht, diese neue, blonde Puppe in ihrem lila Kleidchen; ihre alte Puppe hatte schwarzes Haar.
Die da auf sie zukam, war auch blond. Sie verdeckte schon die Sonnenkugel, als in Emma noch eine letzte, tiefe Erinnerung aufkam und sich vor ihr abrollte wie ein langes Band mit Bildern, ein Band, das ihre Vergangenheit mit dieser neuen Gegenwart, die sie noch nicht kannte, noch nicht sicher wittern konnte – wäre sie gut, wäre sie schlecht, die Gegenwart hier? –, verknüpfen wollte.
Sabines Gips ist ein Mirakel. Nur die Beine sind frei, ihre Zehen zappeln. Es heißt, Sabine müsse liegen und Ruhe haben,
damit die Knochen an ihrem Rücken wieder zusammenwachsen. Dazu hat die Gouvernante sie jetzt auf den Tisch geschnürt. Denn die Strafe hat ja noch nicht stattfinden können, und Strafe muss sein. Die Bibel ist voll davon. Schuld und Sühne. So viel Schuld, denkt Emma, und immer wieder so viel Sühne. Die ganze Mädchenschar hat im Gänsemarsch anzutreten und Sabine mit einer Rute auf den Gips zu schlagen. Sabine heult schon, bevor das erste Mädchen ausholt. Als sich Emma weigert, bei diesem Kollektivkommando mitzumachen, heißt es: Dann wirst halt du geschlagen.
Aber sie hat sich getäuscht. Keiner schlägt sie. Stattdessen wird sie abgeführt in den Geräteraum neben der Turnhalle. Da hat es Spinnen, Schlangen und Skorpione drin! Da bleibst du nun drei Tage und drei Nächte, du verlorene Seele. Bis du es lernst.
»Was stehst du da wie angeleimt? Marsch, marsch, beweg dich!« Und die störrische Emma lernte auch im Mädchenpensionat »Carola«, wie sie sich zu verhalten hatte, um möglichst nicht unbehelligt zu bleiben. Denn: Nur die fürchterlichsten Geschichten, nur die allerschlimmsten Geschehnisse könnten aus ihr eine der anderen machen.
Briefe für Amimour
Atlantischer Ozean/San Juan, Puerto Rico, 1957/1958
Am Freitag, dem 8. November 1957, stand den Gästen der ersten Klasse des Passagierdampfers »Antilles« der Linie Cie Gle Transalantique French Line das folgende Mittagsmenü zur Auswahl:
Grüne Oliven, Stangensellerie, schwarze Oliven; Salami aus Mailand, Sardellenfilets aus Biarritz; Salat Cambacérès, Radieschen und frische Calvados-Butter. Im Weiteren Rouennaiser Suppe in der Tasse, kalte Consommé oder eine Zwiebelsuppe, à point zehn Minuten lang gratiniert.
Wer mochte, bestellte sich pochierte Eier an einer weißen Mornaysauce oder gebratene Eier amerikanischen Stils. Obendrauf käme dann das Seeteufelmedaillon im Mayonnaisemantel zu liegen.
Besondere Aufmerksamkeit wurde erbeten für die Kalbsbrustspitzen, sautiert nach Saintonger Art.
Frische grüne Böhnchen an echter Butter aus Isigny, Kartoffeln – gekocht, gebacken, gestampft oder gepellt – weiße Bohnen nach Art des Maître d’Hôtel, Nudeln, Hörnchen, Spaghetti an Tomatensauce, Kreolischer Reis und Riz Nature wurden angepriesen, und als wäre das noch nicht genug, gab es auf Holzfeuer gebratenes Hammelkotelett, gebratene Kutteln und grünes Erbsenmus sowie Babykartoffeln obendrauf.
Wem der Sinn nach etwas Leichterem stand oder wer sich ob des reichhaltigen Angebotes in seinen widersprüchlichen Gelüsten verirrte, bestellte sich Kopfsalat oder Endivien oder einen Käseteller mit Munster, Bon-Adour undSchweizer Gruyère Crème. Die einen süßen Zahn hatten, freuten sich schon nach der ersten schwarzen Olive auf Desserts wie den Moskauer Pflasterstein, die Tarte Montmorency, das Ananas-Flan oder den gebackenen Apfel an Früchtezuckergelée. Assortierte Kompotte und ein Früchtekörbchen krönten das Angebot dieses einfachen Hauptgangs des 8. November 1957, zu dem man Rotwein oder Weißburgunder kredenzte, einen Tee aus China oder einen aus Ceylon zu sich nahm oder wahlweise auch einen French Coffee, Nescafé oder einfach eine Milch. Und wer es wirklich ganz prosaisch wollte, trank einen Kräutertee. Lindenblüten, Minze, Eisenkraut und Kamille standen dem Geneigten zur Auswahl bereit.
Abel Ditrich hielt sich an das kalte Buffet. York Ham und Schinken aus den Ardennen, Roastbeef mit Meerrettichschaum, Räucherzunge oder vielleicht auch einmal die Ententerrine an Périgourdinesauce probieren? Längst schon war er das Essen der Allerweltsleute gewohnt, achtete seit seinem Namenswechsel nicht mehr auf koschere Speisen. Er stapelte die
Weitere Kostenlose Bücher